Türchen 1

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Snowfall Night
High Fantasy von Sabine Schulter

Kapitel 1: Auf der Flucht

Yurisha

Keuchend strauchelte ich und konnte nur mit Mühe verhindern, dass ich in den knietiefen Schnee fiel. Zum Glück blieb ich auf den Beinen, doch durch meine hektische Bewegung flog einiges der weißen Masse auf, klatschte in mein Gesicht und rieselte mir am Kragen meines Umhangs vorbei unter die Kleidung. Eisig und feucht schmolz sie auf meiner Haut, kühlte mich aus und ließ mich erzittern. Wie ich Schnee hasste! 

»Yuri«, rüttelte mich Ranok auf, packte meine Hand, noch bevor ich mein Gleichgewicht ganz wiedergefunden hatte, und riss mich mit sich. Beinahe wäre ich dadurch gefallen. »Wir müssen uns beeilen.«

»Was meinst du, was ich die ganze Zeit versuche?«, antwortete ich gereizt. »Aber bei diesem verfluchten Schnee hat eine Flucht doch sowieso keinen Wert. Unsere Spuren sind weithin sichtbar.«

Wir verstummten, als hinter uns ein Jagdhorn ertönte, und ängstlich schaute ich über die Schulter. Sie waren nah. Viel zu nah! Doch der Berghang, den wir mühsam erklommen hatten, blieb weiterhin leer. Noch hatten wir Zeit. Allerdings zeigte mir der Blick zurück genau das, was ich eben angesprochen hatte. Unsere Fußabdrücke waren deutlich zu erkennen. Selbst mitten in der Nacht und bei bewölktem Himmel. Während wir uns abhetzten, konnten unsere Verfolger kraftschonend folgen. Verlieren würden sie uns niemals. Ich japste erschrocken, als mich Ranok voran zerrte. 

»Vertrau mir«, sagte er angespannt. »Ich habe einen Plan.«

Einen Moment betrachtete ich den Rücken des jungen Flammenkriegers und fragte mich wieder einmal, wieso er all das für mich tat. Unsere Verfolger … Sie gehörten Ranoks Volk an. Ich konnte ihnen nicht einmal verdenken, dass sie mich in die Finger bekommen wollten. Denn ich hatte eine Aufgabe, die sie ins Verderben stürzen würde. Alle Flammenkrieger. Ranok schloss sich ihnen jedoch nicht an … Er … verriet seine Leute ununterbrochen, indem er mich vor den Jägern versteckte.

Ich fluchte, als ich schon wieder aus dem Tritt kam. Ranoks Finger schlossen sich fester um mein Handgelenk und ließen nicht zu, dass ich fiel. Dafür bekam ich Schnee in die Stiefel und die Feuchtigkeit setzte meinen eiskalten Zehen noch mehr zu. Trotzdem gab ich nicht auf, biss die Zähne aufeinander und eilte hinter Ranok her, der mir eine Furche durch all das Weiß bahnte. Bestimmt entkamen wir bald. Ich musste nur noch etwas durchhalten. Ranoks Pläne hatten bisher immer funktioniert. Aber ich war so müde …

Wir hetzten schon seit Tagen durch diese Gegend, hatten kaum Gelegenheit zum Schlafen und die beständige Kälte rieb mich auf. Ich wollte nur in einen warmen Raum und etwas Leckeres essen, ehe ich in ein kuscheliges Bett fiel. Leider waren alle drei Dinge in dieser unwirtlichen Gegend Wunschdenken. Der Weg über diesen Berg sollte eine Abkürzung sein. Und nun? Nun wurde er vielleicht zu unserem Grab. 

In meinen bitteren Gedanken gefangen, merkte ich zuerst nicht, dass meine Stiefel nicht mehr so tief einsackten und zwischen dem unendlichen Weiß häufiger dunkle Felsen hervorbrachen. Überrascht schaute ich mich um, als wir im nächsten Moment Stein unter den Füßen hatten und sich der Schnee vollkommen vermissen ließ. Noch immer war die Umgebung wenig einladend, aber nun würden uns unsere Fußspuren nicht mehr verraten. 

»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte ich und holte zu Ranok auf. 

Der Flammenkrieger wandte mir den Kopf zu und zeigte eines dieser sympathischen Grinsen, die ich in der letzten Zeit zu schätzen gelernt hatte. Auch flackerten mir am Rand der fellbesetzten Kapuze vorbei seine weißen Flammen entgegen. Denn im Gegensatz zu mir besaß Ranok wie alle Mitglieder seines Volkes keine Haare, sondern Feuer auf dem Kopf. Sein weißes war sehr selten – so viel hatte ich bereits verstanden – und gegenüber Fremden heiß. Weswegen ich mich schon mehrfach an Ranok verbrannt hatte, seine Kapuze allerdings nicht betroffen war. Nur solange Kleidung zwischen uns war, schmerzten mich seine Berührungen nicht. 

»Wir haben eine Stelle erreicht, wo die Lava des Berges nahe an die Oberfläche kommt und daher den Fels erhitzt«, erklärte er mir. »Hier hält sich keine Schneeflocke und wir haben endlich die Chance, zu entkommen. Beeilung, sie können nicht mehr weit hinter uns sein.« Sein Blick flog gen Himmel, suchte dort etwas und Ranok biss fest die Zähne zusammen, als er es wohl fand. Schon zog er mich weiter. 

Obwohl ich mich unerbittlich antrieb, war ich doch nicht so schnell wie der Flammenkrieger an meiner Seite. Wo meine Atemzüge bereits keuchend kamen und mir die Luft in den Lungen brannte, wirkte er nicht einmal aus der Puste. Und wenn Ranok noch nicht an seinen Grenzen angekommen war, dann unsere Verfolger ebenfalls nicht. Ich gab mir wirklich Mühe, meine Geschwindigkeit zu steigern, aber ich war nur eine Priesterin. Ich konnte weder mit außerordentlicher, körperlicher Ausdauer punkten, noch mit Fähigkeiten in der Selbstverteidigung. Wenn man uns einholte, war ich Ranok bloß ein Klotz am Bein. Tränen schwammen mir in den Augen. Wie sollte ich so mein Ziel erreichen? Wie hatte ich so blauäugig und überzeugt davon sein können, den ganzen Weg allein durch das Land unserer Feinde zu schaffen? Und jetzt zog ich Ranok mit ins Unheil. 

Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er ohne mich weitergehen sollte. Er gehörte diesen Leuten an. Ohne mich würde er niemals Probleme bekommen. Aber mit mir … Bevor ich auch nur Luft für ein Wort holen konnte, blieb Ranok plötzlich stehen und schob mich ohne viel Federlesen zwischen eine riesige Anordnung von Felsen. Sie standen so nah, dass sie eine natürliche Höhle bildeten. 

»Bleib hier«, wies mich Ranok an, als ich überrascht ein paar Schritte hinein taumelte. »Ich werde die Jäger ablenken.«

»Was?«, rief ich entsetzt aus und wirbelte herum, um ihn abzuhalten. Doch er war bereits verschwunden. 

Schnell eilte ich zum Ausgang, blieb aber unschlüssig stehen, als ein kalter Windzug hereinkam – und mit ihm der nächste fordernde Ton des Horns. Bang machte ich einen Schritt zurück in die Höhle. Mir gefiel es ganz und gar nicht, allein hier zurückzubleiben. Aber wenn Ranok sagte, dass ich bleiben sollte, war es eine ganz schlechte Idee, dem zuwider zu handeln. Zitternd vor Kälte stand ich da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte Ranok nicht all die Arbeit allein machen lassen, sondern nützlich sein. Ihm helfen. Doch auf unserem Abenteuer hatte es sich viel zu häufig gezeigt, wie wenig ich mich in der Welt auskannte. Vor allem im Reich der Flammenkrieger. Dass es zwischen den vielen Vulkanen schneebedeckte Bereiche gab, war mir nicht einmal als Idee gekommen. Ich hatte immer gedacht, dass hier alles heiß, karg und hässlich sei. Nun, damit hatte ich mich gehörig getäuscht. Obwohl diese kalte Hölle hier durchaus furchtbar war. 

Mit einem leisen Seufzen zog ich mich zwischen die Steine zurück. Licht fiel kaum herein und ich hasste es, nicht zu wissen, was in der Finsternis um mich herum lauerte. Aber wenn Ranok sagte … Nachdenklich ließ ich mich auf einer Felskante nieder. Wann hatte ich begonnen, Ranok derart zu vertrauen? Natürlich, er hatte mir in einer ausweglosen Situation zur Seite gestanden statt mich meinen Häschern zu übergeben. Er unterstützte mich sogar dabei, meinen Bestimmungsort zu erreichen. Nur wieso tat er das? Ich war ausgesandt worden, um seinem Land, seinem Volk zu schaden. Und was tat er? Er zeigte mir den Weg. 

»Ich bringe dich zum westlichen Meer«, wiederholte ich seine Worte, die er mir bei unserem ersten Treffen sagte, »damit du deine Mission erfüllen kannst. Aber unterwegs werde ich dir zeigen, wie wunderschön mein Land ist, wie schützenswert. Und wenn ich Glück habe, wirst du dann unsere Vernichtung nicht mehr wollen. «

Einige Minuten saß ich einfach da, mit stummen Gedanken und einem flauen Gefühl im Magen. Wenn ich ehrlich war, wollte ich niemanden vernichten. Weder Ranoks Land, noch sein Volk. Aber wenn ich meine Pflicht nicht erfüllte, würde meine Heimat sterben. Weil das Leben der Flammenkrieger und das von uns Wasserpriestern nicht miteinander vereinbar war. Es hieß leider: sie oder wir. Und es lag an mir, die Schuld am Tod von Ranoks Volk auf mich zu laden. Überrascht hob ich eine Hand, als ich eine Träne über meine Wange laufen spürte. Wieso weinte ich? Ich hatte doch nur an die Erledigung meiner Pflicht gedacht – und daran, was ich damit alles zerstören würde. 

Ranok hatte seine Aufgabe gut erfüllt. Auf unserem Weg hatte ich so vieles gesehen, erkannt, wie vielschichtig sein Land doch war. Was mir aber ganz besonders zusetzte, war die Vorstellung von Ranoks Enttäuschung, wenn ich nicht von meinem Plan abließ. Wie ich unsere Freundschaft damit einfach zerriss. Und der Gedanke, dass Ranok mich daraufhin hassen würde … Aber was sollte ich tun? Stattdessen mein eigenes Land untergehen lassen? Meine Freunde und Familie? Fest verkrallte ich meine Finger ineinander, wusste nicht, was ich tun sollte, während ich vor Kälte fürchterlich zitterte. Wenn … 

Erschrocken hielt ich den Atem an, als etwas über den Stein schabte, der mich umschloss. Kratz, kratz, kratz. Es kam der Öffnung immer näher und mit aufgerissenen Augen starrte ich dorthin. Nun erkannte ich auch ein flackerndes Licht. Das konnte nur einer unserer Häschersein und mit einem Keuchen sprang ich auf, griff auf meine natürliche Macht zu. Ich würde mich nicht kampflos ergeben. Das Kratzen kam näher, das Licht wurde heller – und im nächsten Moment hopste ein Vogel, so groß wie ein Falke, zu mir herein. Die Anspannung wich aus meinen Muskeln und vor Erleichterung sackte ich zu Boden. 

»Ruufin«, begrüßte ich Ranoks zahmen Phönix. »Du hast mich zu Tode erschreckt.«

Eigentlich hätte ich darauf kommen können, dass nicht einer unserer Verfolger den Weg zu mir gefunden hatte. Denn Ruufins brennendes Gefieder war wie RanoksFlammen weiß und nicht rot wie es normalerweise der Fall war. In meiner Angst hatte ich einfach nicht daran gedacht. Vorsichtig streckte ich die Finger nach dem Vogel aus, doch zu meiner Überraschung pikte er nach mir und flatterte aufgeregt mit den Schwingen. 

Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Was ist?«

Eilig flog der Phönix hinaus, kam zurück und verließ die Höhle erneut. Und bei mir fiel der Groschen. Er wollte, dass ich ihm folgte. Und das konnte nur eines heißen: Feinde! Ich musste weg. Sofort sprang ich auf, zog mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht und holte zu Ruufin auf. Mit fliegenden Fingern öffnete ich meinen Umhang, packte den Phönix und holte ihn unter den Stoff, schloss ihn in meine Arme. Mit seinem Feuer würde er weithin sichtbar sein und solange ich noch nicht entdeckt wurde, hatte ich eine Chance zu entkommen. Bang sah ich mich um, bemerkte aber weder einen Verfolger, noch Ranok. Wie sehr ich mir den jungen Krieger zurückwünschte! 

Wo sollte ich hin? Instinktiv wollte ich auf dem warmen Stein bleiben und wandte mich daher den Berg hinauf. Aber Ruufin begann zu zappeln, weswegen ich die Richtung änderte und nach Westen lief. Der Phönix beruhigte sich, schmiegte sich in meine Arme und verströmte dabei eine herrliche Wärme, die mich aufatmen ließ. Dann eben Westen. Der Himmel klarte langsam auf, weswegen ich mehr von meiner Umgebung ausmachen konnte. Ausnahmsweise schaffte ich es sogar, leise zu laufen und langsam entspannte sich mein wild schlagendes Herz. Angst, dass Ranok mich nicht wiederfinden würde, hatte ich nicht. Im schlimmsten Fall würde Ruufin ihn zu mir führen. Jetzt musste ich erstmal weg. Am besten sogar in tiefere Gefilde, wo es nicht so verflucht kalt war. 

Vorsichtig stieg ich über die rauen Felsen, nutzte jede noch so kleine Deckung und achtete auf das kleinste Geräusch. Ich war stolz auf mich. Auch ohne Ranok schaffte ich es, verborgen zu bleiben. Na gut, wahrscheinlich nur, weil mein Freund unsere Häscherablenkte, aber immerhin. Langsam wurde es heller, der Mond ging auf und auch die Sterne funkelten, da die Wolken zerfaserten. Vor mir entdeckte ich bereits das Schneefeld und ich überlegte, ob ich es wirklich betreten sollte. Ich würde Fußabdrücke hinterlassen. 

Plötzlich begann Ruufin zu zappeln und er stieß ein warnendes Kreischen aus, das mich erschrocken zurückschauen ließ. Zu meinem Entsetzen hatte ich falsch gedacht. Nicht der Mond hatte die Umgebung so gut ausgeleuchtet, sondern ein Flammenkrieger, der in diesem Moment zwischen den Steinen auftauchte. Wir hielten beide für eine Sekunde und voller Überraschung inne. Dann wurde sein Blick hart und sein rotes Feuer loderte auf. Schon nahm der Jäger die Verfolgung auf und ich wirbelten mit einem ängstlichen Geräusch herum. 

Ich entließ Ruufin aus meinen Armen, damit er mir den Weg erhellte. Verstecken war nun sowieso keine Option mehr. Ich rannte, so schnell ich konnte, warf immer wieder einen Blick zurück und musste dabei feststellen, dass der Krieger aufholte. Er war wie eine Walze, die sich von der unebenen Strecke nicht beeinflussen ließ. Ich hingegen musste aufpassen, wo ich hinlief und dass ich nicht fiel. Und dann, bei meinem nächsten Blick über die Schulter, passierte es. Mein Fuß traf keine gerade Stelle, sondern eine Kante, wegen der ich umknickte. Mit einem spitzen Schrei fiel ich zur Seite, versuchte mich zu fangen und war sogar kurz davor, es zu schaffen. Doch mein Fuß fand nur Leere. 

Von mir unbemerkt hatte sich eine Felsspalte links von mir aufgetan, in die ich nun fiel, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ruufin kreischte, kam herangeflattert und meine Finger versuchten noch, seine Krallen zu packen. Aber er kam zu spät. Ich verfehlte jeden Halt und stürzte ungebremst den Abgrund hinab. Ruufin folgte mir, packte meinen Umhang und hielt meinen Sturz eine Kleinigkeit auf. Nur würde es nicht reichen. Ich fiel, fiel, fiel. Und über mir sah der Flammenkrieger schweigend dabei zu. War das mein Ende? Konnte ich nur noch darauf warten, auf dem Grund der Schlucht aufzuschlagen? Ich wollte die Augen in Erwartung meines Todes schließen, als plötzlich ein weißes Licht über die Felskante sprang. 

»Ranok«, keuchte ich, als ich ihn erkannte, wie er ohne Rücksicht auf sich selbst mir hinterher kam. Hoffnung erwachte in mir und ich streckte mich in alle Richtungen, fing damit den Wind in meinem Umhang, damit ich so langsam fiel wie möglich. Durch Ruufins Unterstützung funktionierte das so gut, dass Ranok mich erreichen und mir eine Hand entgegenrecken konnte. Ich ergriff sie und augenblicklich zog mich der Krieger in seine Arme. Doch was wollte er nun tun? Zu meinem Entsetzen blieb uns keine Alternative. Ranok konnte schließlich nicht fliegen. Aber er schützte mich mit seinem eigenen Körper, während die Felswände mit scharfen Kanten nach uns griffen. 

»Ranok«, rief ich verzweifelt, weil ich nicht wollte, dass er sich für mich opferte. 

Er zog mich jedoch nur noch fester an sich, presste mein Gesicht an seine Schulter und im nächsten Moment schluckte uns der Schnee am Grunde der Schlucht.

 

Kapitel 2: In der Nacht

Ranok

Diese unmögliche Frau! Da ließ ich sie ein einziges Mal für wenige Minuten zurück und sie schaffte es nicht nur, entdeckt zu werden, sondern auch noch in eine Schlucht zu fallen. Und was machte ich Idiot? Ich sprang hinterher, ohne zu zögern. Selbst wenn ich mich furchtbar über meine eigene Dummheit aufregte, atmete ich erleichtert auf, als ich Yuri zu packen bekam. Doch die Zeit bis zum Aufprall war knapp. Eilig zog ich sie in meine Arme und nutzte meinen Schwung, um unter sie zu kommen. Ich wappnete mich gegen den Aufprall, hörte Yuri meinen Namen rufen und presste sie so fest wie möglich an mich. Schon schluckte uns der tiefe Schnee am Grunde der Schlucht. 

Obwohl wir in ihn fielen wie in weiche Daunen, war der Aufschlag immens. Ein Fels streifte meine Seite, presste mir alle Luft aus den Lungen und das pudrige Weiß versuchte mir Mund und Nase zu verschließen. Beinahe wurde Yuri mir entrissen, doch ich hielt sie fest, gab alles, um jegliches Leid von ihr fernzuhalten. 

Und dann war es vorbei. 

Unser Sturz wurde abgefedert und wir lebten noch. Allerdings drohte der Schnee uns zu ersticken. Yuri geriet in Panik, versuchte sich freizukämpfen. Nur mit Mühe konnte ich sie bei mir behalten. Sie vergaß wieder einmal, wer an ihrer Seite war. Welche Möglichkeit ich besaß. Fest zog ich die junge Wasserpriesterin an mich, damit sie nichts abbekam. Dann ließ ich der Hitze in meinem Inneren mehr Raum, wodurch sie nach außen strömte. Der Schnee schmolz in Sekunden und kaum drang frische Luft zu uns, atmeten wir sie gierig ein. 

Yuri drückte sich soweit hoch, dass sie mich anschauen konnte. Durch den Sturz war ihre Kapuze heruntergerutscht und ihr weißes Haar triefte von der Schneeschmelze vor Nässe – und in der nächsten Sekunde schlug sie mir kräftig gegen die Schulter. 

»Au«, beschwerte ich mich. »Wofür war denn das?«

»Du hast mir furchtbare Angst gemacht!«

»Ich habe dir Angst gemacht?«, fragte ich ungläubig. »Du bist doch diejenige, die beinahe geschnappt wurde und dann eine Klippe hinunter fiel. Solltest du mir nicht danken, dass ich dir todesmutig hinterher gesprungen bin?«

Im flackernden Licht meines Haars war ich mir nicht ganz sicher, aber … zitterten Yuris Lippen? Als im nächsten Moment Tränen in ihren Augen schwammen, setzte ich mich alarmiert auf, wodurch es fies in meiner Seite stach. Aber ich ignorierte es. 

»Hey«, sagte ich behutsam und zog Yuri zurück in meine Arme, strich ihr tröstend über den Rücken. »Was ist los? Womit habe ich dich so aufgebracht?«

»Dieser Sturz … Es war nur ein wenig zu viel. Die Verfolgung, der Schlafmangel, die Kälte. Und dann … Ich dachte wirklich, du opferst dich für mich. Ich … Ich hätte das nicht ertragen.«

Sie krallte sich in meine Kleidung und ich war überzeugt, dass sie aufschluchzen würde. Aber das geschah nicht. Yuri zitterte und haderte mit der Situation, aber sie gab sich alle Mühe, um stark zu bleiben. Für eine junge, verwöhnte Wasserpriesterin machte sie sich wirklich gut. Und sie hatte nur aus Sorge um mich Tränen in den Augen. Ein Lächeln mogelte sich auf meine Lippen und sacht fuhr ich ihr über das seidige Haar. Doch durch meine Handschuhe konnte ich es nicht spüren. Also biss ich in den Stoff am Zeigefinger, zog meine Hand heraus und spuckte das Kleidungsstück fort. Zufrieden schob ich meine Finger in ihre Strähnen, spürte wie weich sie trotz der Nässe waren, und genoss Yuris Wärme. Wir waren noch lange nicht in Sicherheit und es gab weit bessere Orte, um sich auszuruhen, aber für ein paar Sekunden erlaubte ich es mir, in Yuris Nähe durchzuatmen. 

Plötzlich spannte sie sich an und drückte sich wieder fort von mir. Mit großen Augen sah sie meine Hand an, die ich wohl oder übel aus ihren Haaren nehmen musste. »Ranok, du … kannst mich anfassen? Wieso das? Bisher habe ich mich doch immer verbrannt.«

»Hm«, machte ich bestätigend. Ich wusste den Grund, warum das nicht mehr der Fall war, spürte ihn tief in meinem Herzen. Besonders wenn mich Yuri mit ihren schönen blauen Augen ansah. Aber sie musste ihn noch nicht erfahren. Also scheuchte ich sie auf. »Ich erkläre es dir später. Jetzt sollten wir weg. Sicherlich wird man unsere Verfolgung nicht aufgeben, nur weil wir einen Abhang hinabgefallen sind.«

Gleichzeitig blickten wir hinauf, wo Ruufin nur wenige Meter höher kreiste und weit oben, dort wo die Klippe ihren Anfang nahm, ein Flammenkrieger auf uns herabsah. Als wären unsere Blicke ein Startzeichen, wandte er sich ab und das Rot seines Feuers verschwand. 

»Wir müssen weg«, murmelte ich, zog meinen Handschuh wieder an und pfiff nach Ruufin, während wir uns aufrappelten. Dabei fuhr erneut ein fieser Schmerz durch meine Seite und dieses Mal konnte ich ein Stöhnen nicht ganz unterdrücken. Natürlich stutzte Yuri sofort und trat näher. 

»Du bist verletzt?«, fragte sie besorgt. 

Sie streckte die Hand nach mir aus, aber ich hielt sie ab, meine Seite zu berühren. »Es ist nichts Schlimmes. Lass uns erst von hier verschwinden, ehe wir mich versorgen.«

Yuri wirkte unzufrieden damit, nickte jedoch, weswegen ich sie aufmunternd anlächelte und mich dem Schnee zuwandte. Durch meine Schmelze war er nicht nur über uns fort, wir waren auch weiter eingesunken, weswegen sich die weißen Massen nun gut drei Meter um uns herum auftürmten. 

»Das kann uns durchaus helfen«, überlegte ich und legte eine Hand an die Schneewand neben mir, während Ruufinauf meiner Schulter landete. 

»Was meinst du?«, wollte Yuri wissen. »Was hast du vor?«

Ich tätschelte die weiße Wand. »Wenn wir uns in diese Richtung bewegen, öffnet sich die Schlucht in ein paar Hundert Metern. Doch statt auf dem Schnee zu laufen, können wir uns hindurchbrennen. Dadurch entgehen wir den Augen unserer Häscher und kommen an einer vollkommen anderen Stelle heraus, als sie vermuten.« Ich mustere das gefrorene Wasser. »Dank Ruufin werden wir die Orientierung nicht verlieren, aber die Schneedecke über uns könnte einbrechen. Das ist mir eigentlich zu unsicher.«

Yuri trat an meine Seite. »Überlass das mir. Sobald die Kristalle schmelzen, kann ich das Wasser nutzen, um alles zu stabilisieren.«

»Das klingt nach einem guten Plan«, sagte ich überrascht von ihrem Einfallsreichtum. Schon grinste ich sie an. »Wir sind ein gutes Gespann.«

Ein Lächeln hellte Yuris Gesicht auf. »Das sind wir. Los,lass uns keine Zeit verlieren.«

Einen Moment betrachtete ich sie noch versonnen, wandte mich dann aber der Schneewand zu und ließ erneut meine Hitze frei. Das Eis schmolz sofort und öffnete uns dadurch einen Tunnel, den ich so groß hielt, dass wir angenehm hindurchgehen konnten. Ruufin schüttelte unwohl sein Gefieder, aber er blieb folgsam auf meiner Schulter sitzen, erhellte zusammen mit meinen Flammen die Finsternis. 

Yuri folgte mir dicht auf und zeigte nun eindrucksvoll, wozu sie als Wasserpriesterin fähig war. Wie sie es machte, wusste ich nicht, aber das Schmelzwasser rann wider die Natur um meine Füße herum, floss die Wände hinauf und sammelte sich als breitflächiger See über unseren Köpfen. Yuri machte noch mehr, denn sie hielt das Wasser so lange über uns, bis eine dünne Eisdecke zurückblieb. Den Rest ließ sie in Fäden hinter uns zu Boden tropfen, sodass stabile Eiszapfen entstanden, die man erst mühsam zerschlagen oder schmelzen musste, wenn man uns folgen wollte. Luft hatte jedoch genug Raum, um zu uns zu gelangen. 

Unwillkürlich grinste ich erneut. »Wie gut, dass ich so eine clevere Partnerin habe.«

Yuris Stimme klang erheitert. »Vielen Dank für das Kompliment.«

Die nächsten Worte schlüpften mir ungewollt heraus. »Wenn ich mich schon gegen meine eigenen Leute stellen muss, dann wenigstens zusammen mit dir.«

Yuris Schritt stockte und am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Dieses Thema war ein schwieriges und belastete unsere Freundschaft immer wieder. Dass ich es erneut angesprochen hatte, zeugte davon, wie stark es in mir gärte. Wie sehr ich die Situation hasste, obwohl ich sie selbst gewählt hatte. Es blieb still zwischen uns und diese Stille drückte schwer auf mein Gemüt. 

Ich schmolz uns weiter einen Weg in die Freiheit, während Ruufin seinen Griff mit der linken Klaue festigte. Daher passte ich meinen Weg an, bis sich mein Phönix entspannte. Ruufin war zwar sehr jung und noch lange nicht ausgewachsen, doch seine Orientierung kannte keine Fehler, weswegen ich ihm absolut vertraute. 

Als ich einen leichten Zug im Rücken spürte, sah ich über die Schulter zurück. Yuri hatte die Hand ausgestreckt und meinen Umhang mit zwei Fingern ergriffen. Betrübt schaute sie auf meinen Rücken. »Du musst das alles nicht tun. Ich werde den Weg zum westlichen Meer schon allein finden.«

Traurig blickte ich sie an, ehe ich mich wieder nach vorn wandte. »Das stimmt vielleicht, aber du weißt, was ich hiermit versuche, zu erreichen. Ich möchte dir die Schönheit meines Landes zeigen und dich davon überzeugen, es nicht zu vernichten.«

So vieles wollte ich noch hinzufügen, aber wir hatten immer wieder über all das gesprochen. Ich würde mich nur wiederholen – und doch nichts damit verändern. Yuri war eine wundervolle Frau. Mit einem großen Maß an Mut, Durchsetzungsvermögen, Mitgefühl und Liebe zur Welt. Aber sie war auch ihr ganzes Leben lang auf eine Sache vorbereitet worden: Mein Volk zu töten. Sie zu begleiten, sie an ihren Bestimmungsort zu bringen und dabei zu versuchen, ihre Meinung zu ändern, war nur ein Strohhalm, nach dem ich griff. Yuri war der Untergang meines Landes. Daran gab es nichts zu beschönigen. Und doch … Ich konnte nicht aufhören zu hoffen. 

Jeder andere Flammenkrieger würde mich dazu anhalten, sie auszuliefern, unseren Tod damit aufzuhalten oder zumindest etwas hinauszuzögern, bis die nächste Wasserpriesterin auf dem Weg zum westlichen Meer war. Ich konnte es jedoch nicht. In den letzten Wochen hatte ich verstanden, was für eine großherzige Frau Yuri war. Wenn es nach ihr ginge, würde sie wohl niemandem ein Leid zufügen. Doch sie konnte ihre Heimat nicht aufgeben. Sie wollte so dringend helfen, dass sie auch den ganzen Schmerz der Welt auf sich nehmen würde – und gerade diese Selbstlosigkeit hatte dazu geführt, dass ich mein Herz an sie verloren hatte. Ich liebte Yuri. Ich liebte mein Volk und ich liebte meine Heimat. Doch diese drei Sachen waren nicht miteinander in Einklang zu bringen, so sehr ich es mir auch wünschte. 

Da Yuri noch immer meinen Umhang festhielt, spürte ich, wie sie erzitterte. »Also im Moment sehe ich diese Schönheit nicht«, murrte sie. »Es ist kalt, nass und eng. Da gibt es wirklich angenehmere Orte.«

Ich lächelte minimal. »Da gebe ich dir durchaus recht. Das liegt aber nur an unseren Verfolgern. Ich habe die Abkürzung über diesen Bergkamm eigentlich aus noch einem weiteren Grund gewählt.«

»Huh?«, machte Yuri und kam so nah heran, dass sie sich an mir vorbeibeugen und mir ins Gesicht schauen konnte. »Was denn für einen?«

Einen Moment betrachtete ich sie und wägte unsere Möglichkeiten ab. Doch durch unser Manöver hatten die Jäger unsere Fährte vorerst verloren. Wir konnten uns den Abstecher durchaus leisten. Statt Yuri zu antworten, wandte ich mich an Ruufin. Lockend kraulte ich ihn unter dem Schnabel. »Du weißt, wohin ich wollte. Kannst du uns bitte die Richtung weisen?«

Ruufin schloss voller Genuss die Kulleraugen und das Feuer seiner Federn flammte einen Moment auf, ehe er seine rechte Klaue um meine Schulter festigte. Also schmolz ich uns einen Weg dort entlang. 

Yuri gab ein langgezogenes Stöhnen von sich. »Na gut, dann verrate es mir eben nicht.«

Ihre Ungeduld ließ mich lächeln, aber ich schwieg mich aus und führte sie einzig weiter. Gut eine halbe Stunde bahnten wir uns so unseren Weg, bis schließlich Ruufinwarnend mit dem Schnabel klapperte. Sofort rückte Yuri zu mir auf, drückte sich an meinen Rücken. 

»Was ist? Sind wir wieder auf die Jäger gestoßen?«, wisperte sie. Fest krallten sich ihre Finger in meinen Arm. »Oder gar auf ein gefährliches Tier?«

»Nichts dergleichen«, beruhigte ich sie. »Wir haben nur den Ort erreicht, den ich dir zeigen möchte.«

Sie reckte sich, sodass ich ihren verwirrten, umhersuchenden Blick erkennen konnte. »Hier ist nichts.«

»Noch nicht«, erwiderte ich, hob die Hände und schmolz den letzten Schnee fort. 

Ein Loch tat sich vor uns auf, das uns aus der eisigen Umgebung führte. Wir standen am Rand einer weiteren Klippe. Doch sie war anders als jene, die Yuri hinabgestürzt war. Von hier aus hatten wir einen weiten Blick den Berghang hinab und unter uns breitete sich meine Heimat aus. In der Nacht, während alles vom vollen Mond beschienen wurde, sah sie unfassbar schön aus. Der Schnee zog sich weit ins Tal, wo sein kristallenes Glitzern mit den Seen aus Tausenden Lampen wechselte, die in den Städten meines Volkes brannten. In der Ferne erhoben sich die nächsten Vulkane. Diese waren weit aktiver als jener, auf dessen Hängen wir uns befanden, spuckten immer wieder Rauch in den Himmel, während der rote Schein der Lava in ihrem Inneren glühte. Es war ein spektakuläres Bild aus Dunkelheit und Licht. Zusammen mit den Abertausenden Sternen über uns nahm es selbst mir den Atem, obwohl ich diesen Anblick gewohnt war. 

Yuri trat mit vor Staunen offenem Mund neben mich. Wie immer, wenn ich ihr einen großartigen Ort meiner Heimat zeigte, nahm sie alles schweigend in sich auf. Beinahe als ob sie das Bild nie wieder vergessen möchte. 

»Ja«, flüsterte sie schließlich. »Das ist wirklich atemberaubend schön.«

Ergriffen drückte sie sich die Hände an die Brust und ihr Lächeln spiegelte die Schönheit um uns herum wider. Wenn sie die Welt so wie in diesem Moment betrachtete, konnte ich die Augen einfach nicht von ihr nehmen. Wie konnte ein einziger Mensch nur so viel Achtung und Demut vor der Welt empfinden? 

Ein Windhauch zog zu uns herein und Yuri erzitterte in seiner Kälte. Einen Moment blickte ich ebenfalls hinaus, dann berührte ich sie sacht an der Schulter. »Lass uns gehen. Du frierst.«

»Das macht nichts«, sagte sie abwesend. »Ich möchte noch einen Moment bleiben.«

Ich respektierte ihren Wunsch, trat nach kurzem Zögern aber näher und knöpfte dabei meinen Umhang auf. Stets auf Zeichen der Abwehr achtend, legte ich ihn zusammen mit meinen Armen um Yuri, hüllte sie ein und zog sie sacht an mich. Überrascht blickte sie zu mir auf, sodass ich mich in ihren hellblauen Augen verlieren konnte. Ich erwartete, dass sie mich von sich schob, stattdessen lächelte sie und das Gefühl, wie ihre Hände über meine Seiten auf meinen Rücken wanderten, löste einen angenehmen Schauer in meinem Magen aus. Im nächsten Moment lehnte Yuri ihre Wange an mich und blickte weiter hinaus in die Ferne. 

Zufrieden schloss ich die Augen, sog Yuris unvergleichlichen Geruch in mich ein und war nicht bereit, an diesem Punkt unserer Reise aufzugeben. Ich liebte Yuri, ich liebte mein Land und ich liebte mein Volk. Irgendwie würde ich schon einen Weg finden, alles miteinander zu vereinbaren und zu einem guten Ende zu bringen. Daran wollte ich fest glauben.

Ende