Hinter Türchen 16 versteckt sich eine tolle Dystopie, von einem Autor, mit dem ich schon lange (gefühlt von Anfang an) und immer wieder gerne zusammenarbeite:
MORVANJA – Sie sehen Dich
von Mia Hazel
„Wir holen sie uns zurück! Unsere Freiheit!“
Was würdest du tun, wenn jeder deiner Schritte aufgezeichnet würde? Und was würdest du tun, wenn die Verbrechen deiner Eltern dennoch niemals ans Tageslicht kämen?
Der siebzehnjährige Benjihim Lachermeyers, Sohn der Machthaber des Überwachungsstaates Bluajan, wächst fernab der Bevölkerung in Kéntron auf. Als er eine Chance sieht, sich aus dem goldenen Käfig zu befreien, flieht er vor Eltern und Regime.
Ausgerechnet jene Gruppe, die das Land seit Jahren in Angst und Schrecken versetzt, scheint der einzige Ausweg zu sein: Die Morvanja.Der Auftakt einer Geschichte über Zweifel, Freundschaften und dem Wunsch ein neues Leben in einer Welt voller Gewalt zu finden.
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Virtuelle Weihnachten
23. Dezember, 20.00
Es ist soweit, bald geht es los. Seufzend lehne ich mich zurück, kuschle mich in die Decke ein und richte die VR Brille, das Glas Wasser steht neben mir und die Snacks auf der anderen Seite bereit. Schon blinkt das Display, die Kornblume erscheint und ich bin auf meinem Weg. Wie immer komme ich zu spät, vor dem Eingang zum „Horms“ hat sich eine schnatternde Menge gebildet, die alle voller Vorfreude mit den Einladungen wedeln, diese noch einmal lesen, oder ungeduldig warten, bis die Türen endlich geöffnet werden. Ich lasse den Blick schweifen und entdecke ihn in der Masse. Erleichtert dränge ich mich durch die Wartenden und laufe auf ihn zu, während ich meine Hand in der Wohnung die Decke kralle.
Auch wenn wir hier nur im VR-Bereich sind, kann ich die Menschenmassen nicht ausstehen. Der weiche Stoff der Strickdecke holt mich runter. Markus schaut auf und unsere Blicke treffen sich. Mit einem Grinsen tritt er auf mich zu.
„Hey Reh!“, begrüßt er mich und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Mehr wagen wir uns nicht in einem Netz, dass jeden Millimeter aufnimmt. Bei seiner Anspielung auf das kleine Geweih, dass meinen Kopf ziert, verdrehe ich die Augen. War ja klar, dass er sich sofort wieder darauf stürzt.
„Im Gegensatz zu dir habe ich den Dresscode ernst genommen“, schalte ich ihn und ernte dafür nur leises Gelächter von ihm. Mit vor Stolz geschwollener Brust deutet Markus auf die Mütze, die sein Avatar trägt. Ein braunes Beanie, aus dem ebenfalls zwei kleine Hörnchen hervorstehen. Ich muss lachen, dass seine Liebe zu allem Gestrickten selbst vor dem Horms kein Ende nimmt, hätte ich ihm nicht zugetraut.
„Na dann hoffen wir mal, dass das reicht“, necke ich ihn und überreiche ihm die Einladung, die mir Hailey heute zukommen hat lassen.
„Oh edles Stück, was würden wir nur ohne dir tun.“ Markus deutet eine Verneigung an und himmelt das Stück VR Papier förmlich an. Ich kann darüber nur den Kopf schütteln, doch gerade diese Seite an ihm ist es, die ich liebe.
„Komm, bevor wir ganz hinten warten müssen“, flüstere ich und ziehe ihn auch schon mit mir mit. Egal wie sehr ich das Gedränge hasse, ein Gutes hat die VR Feier: Ich spüre die schwitzigen Körper nicht, an denen ich mich vorbeischiebe. Markus Hand in meiner dafür umso deutlicher. Es ist keine echte Berührung, aber ich kenne seine weichen Hände, das Muttermal an seinem Knöcheln, die kleine Narbe, die sich über seinen Handrücken erstreckt, weil er als Kind in eine der Maschinen seines Vaters gegriffen hat. Jedes noch so kleine Detail hat sich in meine Erinnerung gebrannt und ist so immer abrufbar, wann ich ihn spüren will.
Weiter vorne wird die Menschenmasse dichter und wir kommen zum Stehen. Ich lehne mich an Markus an, hier sind wir weit genug in der Mitte, dass das System nicht auf uns aufmerksam wird. Weihnachtselfen, Rentiere, Santas, Christkinder und Schneemänner stehen um uns herum. Manche haben so viel Arbeit in ihr Kostüm gesteckt, dass es einer Schande gleicht, dass diese Feiern nur im Netz stattfinden. Die Tür vor uns geht auf und wir drängen mit den Feiernden nach drinnen.
„Da ist sie!“ – „Ein Rentier!“ „Sara, hier sind wir!“, dringen Rufe vor uns durch den Raum.
„Aasgeier. Die Arme ist heute sicher total ausgelastet“, murmelt Markus hinter mir und der kühle Unterton in seiner Stimme lässt einen Schauder meinen Rücken nach unten wandern. Ich kann ihn gut verstehen, an Abenden wie heute haben wir kaum Zeit mit unserer Freundin Hailey zu sprechen. Sie ist immerzu umzingelt von Schaulustigen und Fans, die sie nach Tipps für eine VR Karriere fragen. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Ohne herausragende Ergebnisse in den Screenings und Herkunft aus der Verna oder den Inneren Kreisen sind diese Ziele ohnehin ein Wunschdenken. Die Menge teilt sich vor uns und wir erhaschen auch einen Blick auf das Ziel der Begierde im Raum.
Sara Deer, die Barkeeperin des Horms steht mit weißem Geweih, einem Schweif und einem knappen Outfit hinter dem Tresen und bereitet jedem, der es möchte einen Digitail zu. Das eigentliche Highlight an den Drinks ist dabei die Ledshow, die sie vorführt, denn schmecken können wir die digitalen Getränke ja ohnehin nicht. Mit etwas Glück enthalten sie aber gratis Tickets zu anderen VR-Veranstaltungen. Schon alleine das ist Grund genug dafür, dass sich viele nicht „satttrinken“ können.
Der Weg zu Sara ist frei und wir schreiten nach vorne. Hailey, wie sie außerhalb des Horms heißt, entdeckt uns und ein warmes Lächeln legt sich um ihre Lippen. Die Falten rund um ihre Augen erscheinen, was mich sofort erkennen lässt, dass es echte Freude ist, und sie zwinkert uns zu. Kurz darauf haben wir zwei eigene Drinks in der Hand. Jeder von ihnen zeigt einen kleinen Vogel, der darin herum kreist. Wir nicken ihr zu und drehen uns wieder um. Dieser Raum ist zu voll und sie zu beliebt, als dass wir hier in Ruhe reden können.
„Gehen wir, Reh“, raunt mir Markus ins Ohr und ich kann ihm nur zustimmen. Nichts wie raus hier.
23. Dezember, 20:30
Wir schieben uns durch die tanzenden Menschen, die Drinks in der einen Hand, uns selbst an der anderen haltend, damit wir uns in der Masse nicht verlieren. Eine Weihnachtselfe stolpert über meine Beine und ich fliege beinahe vorne über. Markus kann mich noch halten, wir wanken jedoch gefährlich. Nach gefühlten Stunden haben wir es endlich ans andere Ende geschafft. Das Horms wird immer voller und voller. Mir tut Sara jetzt schon leid, das wird heute wieder eine lange Nacht.
An der nächsten Tür zeige ich dem Türsteher meinen Drink. Er lugt an mir vorbei, inspiziert Markus, der ebenfalls nur einen Drink hat, in dem sich der kleine Vogel bildet, dann lässt er uns vorbei.
„Frei wie ein Vogel“, flüstert er uns zu und meine Nackenhaare stellen sich auf. Mehrfach habe ich mich schon gefragt, warum diesen Spruch niemand bemerkt. Kann es etwa sein, dass es Menschen in den entscheidenden Stellen gibt, die das nicht wollen? Ich schüttle meinen Kopf und schlüpfe durch den Gang. Wie immer ist es äußerst seltsames Gefühl, wenn sich der Raum ändert. Anfangs ist mir dabei oft so schlecht geworden, dass ich abbrechen musste, mittlerweile kann ich die Übelkeit aber schon sehr gut unter Kontrolle halten. Ich kann trotzdem nicht verhindern, dass sich meine Lippe leicht pelzig anfühlt, als sich meine Sicht wieder klärt und wir uns in einem kleinen Partyraum gefüllt mit bunten Menschen wiederfinden.
Die Party ist auch hier in vollem Gange und das Thema Weihnachten zieht sich wie ein roter Faden durch die Anwesenden, und das im wahrsten Sinne dieses dämlichen Sprichwortes. Ich sehe rote Santakostüme, mit Rauschbärten, die so lang sind, dass jeder außerhalb des Horms drüber gestolpert wäre. Weihnachtselfen mit roten Strümpfen, Santaladys mit Kleidern, so glitzernd, dass sie der Dekoration Konkurrenz machen. Ein Pärchenkostüm mit glitzernd roten Geweihen, Mützen, Zuckerstangen und allerhand anderen Weihnachtskram. Und überall schwirren unsere Vögel herum. Auf den Kostümen, in den von Sara gemixten Drinks, als Anstecker, sogar als Headpiece eines weiteren Rehs. Meine Stimmung hebt sich und wir schlüpfen durch die Anwesenden auf eine Couch zu, in der sich auch zwei mir durchaus bekannte Gesichter zusammengesetzt haben. Amy und Claire entdecken uns, als wir schon fast die Hälfte des Weges hinter uns haben und rutschen winkend zur Seite.
„Ich dachte schon du kommst nicht mehr“, ruft Claire und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Sie kuschelt sich wieder neben Amy und ich lasse ich lachend neben sie fallen. Ich bewundere die beiden für ihren Mut, andererseits ist mir klar, dass sie niemals so nah beieinander sitzen würden, wenn Claire nicht durch Amys Bruder geschützt wäre. Ob er weiß, wen seine Verlobte wirklich liebt und bei ihrem Spiel mitmacht?
„Mussten noch zu Sara“, meint Markus und hebt seinen Drink erklärend hoch. Wie viele andere haben auch die beiden Frauen die Vögel in ihrem Kostüm integriert. Dafür hatte ich allerdings weder Zeit noch Geld, also muss es einer von Saras Drinks sein. Amy zieht die Augenbrauen anzüglich nach oben.
„Ihr werdet sie doch noch sehen, oder?“
„Na klar, unser kleines Weihnachtsfest.“
Lachend boxe ich Markus gegen die Schulter. Er und seine dummen Sprüche immer. Ich freue mich aber wirklich schon darauf, dass wir Hailey wieder treffen, wie sie außerhalb des Horms heißt. Die Frage ist nur, wie wir Markus in die Inneren Kreise bringen sollen.
„Mach dir darüber keine Sorgen, ich finde schon meinen Weg zu euch beiden“, raunt mir Markus ins Ohr und mir wird klar, dass er meine Sorgenfalten gesehen haben muss. Wir beide diskutieren schon seit Tagen, wie wir das hinbekommen sollen.
„Jetzt lass dieses Gesicht und feier mit uns! Wir sind freie Vögel und niemand hört uns hier!“, schreit Amy lachend und endlich fällt auch die Anspannung von meinen Schultern. Sie hat recht. All unsere Probleme sind auch morgen noch da. Aber dieser eine Ort hier ist unsere Freiheit. Unser Platz, wo wir sein können, wer wir sind, ohne dass sie uns dafür rankriegen. Innerlich danke ich Markus und seinen Freunden dafür, dass sie uns diesen Ausweg geschaffen haben, dann führe ich den imaginären Cocktail an meine Lippen. Fast kann ich den süßen Geschmack schmecken, genauso wie die sanfte Berührung von Markus, der über meinen Handrücken streift. So fühlt sich Weihnachten an.