Heute versteckt sich hinter dem 5. Türchen des Selfpublishing-Adventskalenders eine Anthologie:
Write my Story: Anthologie
Träume, die wahr werden …
Zum zweiten Mal in Folge bringt J. M. Weimer eine Anthologie zusammen mit talentierten Autorinnen und Autoren heraus. Dieses Jahr stellte sie allen die Herausforderung, einen Song ihrer Wahl neu zu schreiben, neu zu interpretieren. Dabei durften sich die Talente in allen Genres bewegen und ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Das Ergebnis ist eine einzigartige Playlist und fast vierzig wundervolle Geschichten.
Jetzt heißt es: Kopfhörer rein, Buch auf und Welt aus. Lass dich von den Liedern und ihren Geschichten davontragen.
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Unter anderem ist die Anthologie von Melanie Mur, Hailey M. Evanson und J. M. Weimar.
Gewinnen könnt ihr heute unter dem Beitrag auf Instagram ein Print-Exemplar der Anthologie, herausgegeben von J. M. Weimar, und wenn ihr wollt, signiert von Hailey M. Evanson.

Die magische Begabung
von Hailey M. Evanson
„Guck mal, Malvina! Ich kann es jetzt schon alleine“, rief Carwyn und hielt die Hände in die Höhe. Auf wackligen Beinen versuchte er, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu angestrengt auszusehen.
„Wow! Ich bin wirklich beeindruckt, wie schnell du es gelernt hast“, sagte sie und lief locker zu ihm herüber.
Carwyn grinste stolz und beobachtete, wie leichtfüßig sie über das Eis glitt, als würde sie in ihrem Leben nichts anderes tun. Sie konnte sogar ein paar Sprünge und eine Pirouette, etwas, das er nicht mal ausprobieren würde. Er würde sich dabei sicherlich alle Knochen brechen. Aber er hatte innerhalb weniger Tage das Eislaufen gelernt und konnte eigenständig eine kurze Strecke fahren. Das war für ihn eine Meisterleistung.
Gekonnt bremste Malvina vor ihm und reichte ihm die Hand. „Wollen wir dann etwas weiter in den See hineinfahren?“
„Können wir machen, aber langsam, okay?“
„Natürlich, wir wollen ja nicht, dass du hinfällst.“
„Hey! Heute bin ich kein einziges Mal gestürzt, Malvina.“
„Ich weiß, ich habe dich beobachtet“, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
Carwyn hielt ihre Hand fest, ließ seine Füße vorsichtig über das Eis gleiten und versuchte, eine gute Balance zu finden. Er ging leicht in die Knie, behielt den Oberkörper aufrecht und ließ seinen Blick über die Winterlandschaft schweifen. Bereits seit einigen Monden war der Wald das reinste Winterparadies. Die Bäume waren weiß, der Schnee stand hoch und der See war wie jedes Jahr zugefroren. Etwas, das Malvina natürlich sofort ausnutzte. Wenn sie nicht zum Jagen in den Wald ging, dann fand man sie auf der Eisfläche. Heute war ein besonders schöner Tag. Die Sonne stand tief, schien golden durch die Baumkronen und wärmte sein Gesicht. Es war nicht mehr ganz so kalt wie in den letzten Tagen, dennoch benötigte er seine dicksten Lederhosen und seine Pelzhandschuhe. Eine Wollmütze, die Malvinas Mutter ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte, bedeckte seinen Kopf. Darunter lugte sein krauses langes Haar hervor, das ihm fast bis zu den Schultern fiel.
„Nun alleine, Carwyn“, meinte sie und ließ seine Hand los. Carwyn nickte, streckte seine Arme aus und konzentrierte sich darauf, nicht hinzufallen. Als er zum Stillstand kam, klatschte Malvina hinter ihm.
„Das machst du wirklich sehr gut. Vielleicht können wir nächstes Mal mit ein paar Stückchen anfangen, hm?“ „Ne, Malvina. Ich bin schon froh, wenn ich geradeaus fahren kann“, sagte er lachend und kratzte sich am Hinterkopf.
„Ich weiß doch. Hast du etwas dagegen, wenn ich mal eine ordentliche Runde drehe? Du kannst ja weiterhin üben.“ „Nein, natürlich nicht. Tob‘ dich ruhig aus.“
Sie strahlte ihn an, warf ihre dunkelblonden Locken über ihre Schultern und richtete ihre Mütze. „Kannst du meinen Mantel halten?“
„Wird dir denn nicht zu kalt?“
„Ne, der behindert mich nur. Außerdem wird mir beim Eislaufen immer ganz warm.“
Sie löste ihre Knöpfe und reichte ihm den dicken Pelzmantel. Darunter trug sie ein seidiges Hemd und eine braune, enganliegende Weste, die sie gemeinsam letzte Woche auf dem Markt gekauft hatten. Rasch zupfte sie ihre Kleidung zurecht, nahm Anlauf und flitzte über das Eis. Schneller, als sie jemals rennen könnte. Sie ging in die Knie, sprang in die Lüfte und drehte sich um ihre eigene Achse. Elegant setzte sie wieder auf und fuhr weiter, als wäre nichts gewesen. Mehrere Male hintereinander. Dann zog sie große Kreise um den See und sah dabei so glücklich aus, wie Carwyn sie noch nie gesehen hatte. So frei und unbesorgt, auch wenn ihr Leben in Cattaloh alles andere als einfach war. Es waren die kleinen Momente wie dieser, in denen sie den Alltag in der Stadt vergessen konnten.
Carwyn wandte sich von ihr ab, drückte ihren Mantel fest an seine Brust, der stark nach ihrem Parfüm roch, und versuchte, langsam über das Eis zu gleiten. So wie sie würde er niemals fahren können, doch dafür konnte er mit dem Schwert umgehen und Mandoline spielen. Er musizierte gerne abends mit einem guten Met am Feuer oder in der Schankstube. Manchmal sangen sie auch gemeinsam mit ihren Freunden. Vor allem in der Winterzeit kam die Stadt zusammen und tauschte sich auf einem der wöchentlichen Märkte aus. In der Vorweihnachtszeit waren die Stände besonders schön. An jeder Ecke gab es warme Getränke und leckere süße Speisen. Überall roch es nach Zimt, Nelken und Vanille, aber auch nach herzhaften Düften wie Speck, Käse und Gewürzwein. Er liebte die Winterzeit.
Malvina rauschte an ihm vorbei und Carwyn verlor das Gleichgewicht. Wild schlug er mit den Armen aus und ließ den Mantel fallen. Doch fing er sich schnell wieder und versuchte mühevoll, den Pelz aufzuheben, ohne dabei auszurutschen.
„O Carwyn, das tut mir leid. Hier“, sagte Malvina und reichte ihm das Kleidungsstück. „Wollen wir noch gemeinsam ein Stück laufen?“
Er winkte ab. „Nein, ist schon okay, ich halte mich doch ganz gut alleine. Fahr ruhig.“ „In Ordnung“, sagte sie lächelnd und sauste wieder davon.
Carwyn sah ihr grinsend hinterher, dann fuhr er gedankenversunken umher. Mittlerweile musste er sich dabei gar nicht mehr so sehr anstrengen. Zwar kam er immer wieder ins Wanken, doch konnte er sich ausbalancieren, um nicht zu stürzen. Er dachte darüber nach, was sie an ihrem gemeinsamen freien Tag noch machen konnten. Viel Zeit hatten sie nicht mehr, die Sonne würde bald untergehen. Sie könnten über den Stadtmarkt schlendern, sich Zimtrollen und einen Wein kaufen, und den Abend in der Schankstube ausklingen lassen. Vielleicht würden sie auch einmal die teure Stube vorne am Stadttor ausprobieren. Diese sollte wohl besonders gut sein.
Ein Knacken unter seinen Füßen riss ihn aus seinen Gedanken. Carwyn sah an sich hinab und wurde augenblicklich langsamer. Er bemerkte einen dicken Schlitz in der Eisfläche und blieb stehen. Hektisch sah er sich um – Malvina war in der Ferne. Das Eis knirschte weiter unter seinen Füßen, er holte tief Luft und rührte sich nicht mehr. Carwyn wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Er befand sich auf dünnem Eis und musste jetzt sehr vorsichtig sein. Doch was tat man in solch einer Situation? Er war Schwertkämpfer und kein Eisläufer.
Behutsam setzte er den Fuß auf dem Eis auf – die Fläche knackste wieder und der nächste Spalt zeigte sich. Außerdem hatte er das Gefühl, dass die Stelle unter seinen Füßen auf einmal merkwürdig nachgab … Er musste hier weg, schnell! Fiel er ins Wasser, so würde er sich den Tod holen.
Carwyn presste seine Lippen zusammen, drückte den Mantel enger an seinen Körper und betete zu den Göttern, er möge heil vom Eis kommen. Doch diese hatten andere Pläne. Bei dem nächsten Schritt verlor er das Gleichgewicht, stürzte auf die Eisfläche und brach hindurch. Ehe er sich versah, umgab ihn die eisige Kälte des Sees. Panisch schlug er mit den Händen umher, um zurück zur Wasseroberfläche zu gelangen, doch das Schwimmen hatte er nie gelernt. Das eiskalte Wasser bohrte sich in seinen Körper wie tausend Messerstiche, seine schwere Kleidung zog ihn weiter hinunter. Er wusste, dass er verloren hatte. Auch ohne häufig Eiszulaufen hatte er mitbekommen, dass die Menschen hier ertranken und eine Rettung aussichtslos war. Trotzdem gab er nicht auf, das konnte er einfach nicht!
Er ließ den Mantel fallen, versuchte eisern, sich an die Oberfläche zurückzukämpfen, auch wenn er das Gefühl hatte, weiter nach unten zu sinken. Er probierte es immer wieder, bis das Eis nicht mehr in greifbarer Nähe war und er von der Dunkelheit des Sees verschlungen wurde. Sein Körper war taub vor Kälte, seine Lunge brannte und er spürte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Er hatte keine Kraft, konnte sich nicht bewegen und glitt nur noch leblos durch das eisige Wasser, als er plötzlich etwas Helles entdeckte. Der leuchtende Fisch kam direkt auf ihn zu, würde ihn vermutlich angreifen, doch Carwyn konnte nichts dagegen tun.
Das Tier wurde immer größer und zu seiner Überraschung erkannte er, dass es gar kein Fisch, sondern eine Frau war. Grüne lange Locken schmückten ihr Gesicht, ihr Körper war von einem leuchtenden Schimmer umgeben und spendete ihnen etwas Licht. Doch das auffälligste waren ihre Beine. Sie waren fest verschmolzen, von unzähligen goldenen Schuppen übersät, und an ihren Füßen zeigte sich eine fischige Schwanzflosse.
Was machte denn eine Frau mitten in diesem eisigen Gewässer? Und weshalb trug sie solch merkwürdige Fischflossen? Er musste träumen oder den Verstand verloren haben. Vermutlich war er bereits zu lange ohne Luft hier unten und halluzinierte.
Die Frau kam ihm noch näher, nahm sein Gesicht in ihre warmen Hände und presste ohne Vorwarnung ihre Lippen auf seine. Er erwiderte verwirrt den Kuss, öffnete sanft seinen Mund und hatte das Gefühl, sie würde ihm Luft einhauchen und Wärme schenken.
„Du musst besser aufpassen“, meinte sie und löste sich wieder von ihm. Ihre Stimme war glockenklar und direkt in seinem Kopf zu hören, als wäre sie in seinen Geist eingedrungen.
Schnell schnappte sie sich seine Hand und zog ihn hinauf. Carwyn verstand nicht, was gerade passierte, und betrachtete erstaunt ihre goldenen Schuppen. Sie schienen fest an ihrer Haut zu kleben und zogen sich bis zu ihrem Bauchnabel.
War das real oder drehte er nun vollkommen durch?
Viel Zeit blieb ihm nicht, um darüber nachzudenken. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie die Wasseroberfläche erreicht und schossen durch eine dünne Eisschicht. Die junge Frau schob seinen Körper behutsam auf eine dickere Eisstelle und lächelte ihm zu. Carwyn rang um Luft, verkrampfte sich und zitterte am ganzen Leib. Als er sich wieder fing, war sie bereits verschwunden.
„Bei den Göttern, Carwyn! Geht es dir gut?“, rief Malvina und raste auf ihn zu.
„Kannst du zu mir kommen? Ich bin mir nicht sicher, wie dick das Eis bei dir ist.“
Er nickte benommen und kroch auf den Ellenbogen zu ihr herüber. Als er sie erreichte, schloss sie ihn in die Arme und drückte ihn fest an ihren warmen Körper.
„Was machst du nur für Sachen, hm? Ich dachte schon, ich hätte dich für immer verloren! Wie hast du das geschafft?“
Carwyn fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und legte seine Arme um
ihre Taille. „Ich weiß nicht, da war diese Frau. Sie hat mich gerettet.“ „Eine Frau? Im Wasser?“ Er nickte. „Carwyn … Wie sollte eine Frau …?“
„Ich weiß auch nicht, Malvina. Aber ich habe sie gesehen. Sie hatte grüne Haare und …“ Er schielte zu ihr hoch, sie glaubte ihm nicht. Natürlich nicht. Wie sollte ein Mensch denn im Wasser überleben?
„Sie hat mich gerettet, Malvina. Wirklich. Wie hätte ich es alleine aus dem See schaffen sollen? Dafür war ich zu lange unten. Ich kann mich ja kaum noch bewegen. Glaub mir. Eine Frau mit grünen Locken und … einem Fischschwanz. Sie hat sogar mit mir gesprochen!“
Malvina schüttelte ungläubig den Kopf und strich ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Vielleicht warst du auch einfach kräftig genug, um dich selbst aus dem Wasser zu ziehen, hm? Du bist oft viel stärker, als du denkst.“
„Nein, Malvina. Ich weiß, was ich gesehen habe.“ Das tat er doch oder hatte er nun endgültig seinen Verstand verloren?
„Ja, Carwyn. Aber unter den Umständen kann es sein, dass du dir auch was eingebil-“ Sie unterbrach ihren Satz, als plötzlich etwas durchs Wasser schoss.
Er sah, wie ihr Pelzmantel, den er unten verloren hatte, auf dem Eis landete und eine goldene Fischflosse wieder im See verschwand.
„Malvina! Hast du das eben gesehen?“, fragte er und deutete mit seiner zitternden Hand auf die Stelle. Sie sah ihn mit großen Augen an und nickte. „Eine Frau, die unter Wasser lebt, also? Eine … Wasserfrau?“
Sie hatte die Flosse also auch gesehen, er war nicht verrückt geworden. Den Göttern sei Dank! „Ja, sie hat mich irgendwie im Wasser gefunden und … Sie hat mir das Leben gerettet, Malvina.“
„Wahnsinn … Ich meine … Wie ist das möglich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gibt es in diesem See mehr, als wir dachten? Frauen mit Fischschwänzen, die unter Wasser leben … Ich weiß, das klingt total verrückt, doch du hast die Flosse auch gesehen.“ „Schon möglich“, meinte sie nachdenklich.
„Aber Malvina, ich denke, wir sollten niemanden hiervon erzählen. Wer weiß, auf was für Ideen die Männer in Cattaloh kommen, wenn sie wissen, dass hübsche Frauen hier leben und sie vor dem Ertrinken bewahren.“
Ihr Blick löste sich vom Eis. „Natürlich, es würde uns sowieso keiner glauben … Aber jetzt laufen wir erstmal zur Stadt zurück. Du brauchst dringend ein heißes Bad und danach gehen wir etwas Leckeres auf dem Markt essen. Was sagst du?“
„Gerne“, meinte er und versuchte, sich wieder auf die Beine zu bringen, was durch die Schlittschuhe nicht gerade einfach war. Malvina half ihm dabei und gemeinsam liefen sie vorsichtig zurück.
Dass er gerade so mit dem Leben davongekommen war, weil dieses Wesen ihn gerettet hatte, darüber wollte er jetzt gar nicht nachdenken. Er wusste auch nicht, ob ihm das wirklich bewusst war, oder ob er noch unter Schock stand und die Situation nicht realisierte. Doch ohne diese Fischfrau würde er nicht mehr hier stehen. Vielleicht hatten die Götter sie geschickt, er würde es nie erfahren. Stumm dankte er ihr und krallte sich fester an Malvina. Aufs Eis würde er sich vermutlich nicht mehr so schnell trauen. Oder konnte er sich sicher sein, dass er ihr auch nächstes Mal begegnen würde?
„Worauf hast du heute Abend Lust, Carwyn?“