Heute öffnen wir Türchen 3 des Kalenders und dahinter verbirgt sich ein Science-Fiction-Werk aus der Feder von Bernd Skorczyk:
Kar-Es: 701 Down!
Wir schreiben das Jahr 2105.
Robert Goldblatt, Freddy Byer und Shiyan Chen sind Menschen, wie sie unterschiedlcher nicht sein könnten. Und doch müssen sie als Crew des Patrouillenraumschiffs 701 zusammenarbeiten.
In einem isolierten Sektor am Rande des Sonnensystems stationiert, gelingt ihnen das nur selten. Immerhin waren sie bis vor wenigen Jahren offiziell noch miteinander verfeindet, Überlebende eines Krieges, der nur Opfer hervorgebracht hat.
Als ein unbekanntes Flugobjekt ihr Patrouillenschiff rammt, brechen nicht nur alte Wunden wieder auf.
Denn eine Bedrohung für die gesamte Menschheit nähert sich aus den Tiefen des Alls.
Und die Crew der 701 steht als einzige Verteidigungsinstanz dazwischen.
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Xenius von Bernd Skorczyk
Kapitel 1
Das Jahr 2098
Ein Tag auf dem Mars war nur geringfügig länger als einer auf der Erde. Neununddreißig Minuten und ein paar Sekunden. Während der letzten Monate waren sie Dr. Shiyan Chen wie die berühmte Ewigkeit vorgekommen. So wie jedem anderen Bewohner der Heping-Kolonie. Ursprünglich wohnten dort zivile Siedler. Normale Menschen, die ihrem Beruf nachgingen, Handwerker, Wissenschaftler, Rohstoff-Farmer.
Der Krieg zwischen der „Union unabhängiger Staaten“ (UuS) und der „Transeuropäischen Handelskoalition“ (TEH) änderte das.
Da die Kolonie auf UuS-Territorium stand, wurde sie umgehend zum Stützpunkt erklärt. Soldaten der „Zashchitnaya Stena“, der unionseigenen Militärorganisation, kamen.
Mit ihnen Shiyan. Notgedrungen. Die ZS hatte ihr das Medizinstudium finanziert. Qualifizierte Ärzte an der Front waren Mangelware und die in Peking geborene Chinesin nicht in der Position, sich zu widersetzen. Gleich am ersten Tag auf dem Mars musste sie bei der Planung und dem Bau eines Lazaretts mithelfen.
Vier Wochen später, kurz nach der Fertigstellung, quoll es vor verwundeten Soldaten über. Der Krieg verbreitete sich im Sonnensystem wie eine Seuche. Er tobte auf Planeten, im All, auf Raumstationen. Die normalen Menschen wurden von der Heping-Kolonie evakuiert und Robotik-Abwehrgeschütze aufgebaut. Sie schossen alles ab, was kein UuS-Codesignal abstrahlte. Und, noch wichtiger, Trümmer. Die Anziehungskraft auf dem Mars war zwar geringer als auf der Erde. Trotzdem reichte sie aus, um die Überreste zerstörter Raumschiffe einzufangen. Die Atmosphäre war zu dünn, als das sie darin verglühten.
Manchmal ratterten die Geschütze zwanzig Stunden ununterbrochen, um die Kolonie samt Lazarett vor der Vernichtung zu bewahren. Anfang des Jahres änderte sich das, ohne Vorwarnung und ganz plötzlich. Ob es eine technische Fehlfunktion oder Sabotage war, konnte niemand sagen. Dass der Schaden, wenn überhaupt, nur schwer zu reparieren war, dafür jeder.
„Der Tod regnet!“, sagte einer der Verwundeten, den Shiyan gerade behandelte, als die ersten Trümmerstücke ungehindert in die Kuppel des Kolonie-Hauptgebäudes einschlugen und es komplett vernichteten. Die Marsatmosphäre war selbst nach all den Jahren des Terraformings noch nicht atembar. Sie drang in die Verbindungsgänge ein. Jeder, der sich nicht rechtzeitig sein Atemschutzgerät aufsetzte, erstickte qualvoll. Dreihundert Menschen starben an dem Tag.
Tausende während der folgenden vier Monate. Die Gefechte in Marsnähe nahmen zu. Auch außerhalb der Kolonie gab es herbe Verluste. UuS und TEH beschuldigten sich gegenseitig wegen der humanitären Katastrophe, in die sie die Bewohner des roten Planeten brachten. Die bestialischen Raumschlachten stellten sie aber nicht ein.
Dann geschah vor zwei Tagen das Wunder. Pünktlich zu Heiligabend. Einem Team von einfachen Mechanikern gelang es, die Robotikgeschütze zu reparieren. Mit einem Haken: Sie feuerten von nun an auf jedes Flugobjekt. Freund oder Feind, diese Unterscheidung machten sie nicht. Die Geschütze auszuschalten, auch nur kurz, um Versorgungsshuttles durchzulassen, wagte niemand. Die Heping-Kolonie war längst kein Stützpunkt mehr, sondern eine Trümmerlandschaft voller leidender Menschen. Sie zu vernichten, schien der Transeuropäischen Handelskoalition dennoch äußerst wichtig zu sein. Shiyan Chen verstand nicht, warum. Aber das galt für alles, was sie im Krieg erlebte.
Nach vier Monaten Todesangst stellte sie keine Fragen mehr. Sie war froh, ihre Patienten behandeln zu können und dabei die spärlichen Vorräte an Medikamenten und Nahrung nicht über Gebühr zu strapazieren. Sechzehn-Stunden-Schichten waren normal. Genauso wie der komatöse Schlaf, in dem sie danach versank.
Alle gesunden Kolonie-Bewohner schliefen in der Botanik-Kuppel, gebettet auf Langgrasstreifen, inmitten von Laub- und Nadelbäumen. Privatsphäre gab es nicht. Dafür Streitereien und Prügeleien. Chen bemühte sich, so oft wie möglich einzuschreiten. Schon, um nicht noch mehr Patienten behandeln zu müssen. Ein paar Mal hatte sie für ihre Mühen bereits Schläge und Tritte kassiert.
Im Allgemeinen jedoch respektierten die anderen Bewohner sie. Genauso wie der Oberbefehlshaber der Heping-Kolonie. ZS-General Gor Kon. Er war ein gebürtiger Marsianer. Wie alle seiner Art besaß er einen über zwei Meter großen, dürren Körper. Dazu noch dunkle Haut und spärliches, weißes Haupthaar. Die Fähigkeit des menschlichen Organismus, sich anzupassen, zum Beispiel an die Gegebenheiten eines Planeten, war schon erstaunlich. Leider wies der Geist des Homo sapiens nicht dieselbe Flexibilität auf. Sonst wäre der Krieg nie ausgebrochen. Das dachte zumindest Shiyan Chen.
Am Morgen des 26. Dezembers 2098 erhob sie sich von ihrer Schlafstatt. Sie überprüfte ihr Atmungsgerät, das ordnungsgemäß im Gürtelholster zu ihrer Rechten verstaut war. Mit schlurfenden Schritten ging sie zum südlichen Rand der Botanik-Kuppel, wo sich die Waschräume befanden.
Kurz davor fing sie ZS-Hauptmann Asimov ab. „Dr. Chen? Der General muss Sie dringend sprechen.“
Shiyan war nicht in der Verfassung zu diskutieren. Vergangene Nacht hatte sie einen Patienten am Herzen operiert. Ausgerechnet einen ihrer insgesamt zehn Arztkollegen. Dr. Sanshu, ein fünfundsechzigjähriger Chirurg aus Belarus, war so sehr über die eigenen Grenzen getreten, dass er einen Infarkt erlitt. Chen hatte ihr Möglichstes getan. Trotzdem starb ihr der Mann unter den Fingern weg. Was nicht nur ein persönlicher Verlust war.
Dr. Sanshu fungierte, mit dem Rang eines Kommandeurs, als Verbindungsoffizier zwischen dem medizinischen Personal und dem oftmals kaltherzig agierenden General Kon. Er vermittelte bei Streitigkeiten und setzte sich auch sonst für jeden Bewohner der Kolonie ein. Ohne ihn würde die angespannte Situation noch unerträglicher. Shiyan jedenfalls ahnte Übles, wenn der Oberbefehlshaber jetzt nach ihr verlangte. Vielleicht kam ihm in den Sinn, sie für den Tod des Arztes verantwortlich zu machen. Einen Sündenbock brauchte man ja immer.
Sollte Chen das nun sein, konnte sie daran nichts ändern. Sie folgte Hauptmann Asimov durch die Verbindungsgänge zwischen Botanik- und Verwaltungskuppel.
Kapitel 2
ZS-General Gor Kon stand, unbeweglich wie eine Statue, in seinem Büro, einem kleinen Verschlag im ersten Untergeschoss der Verwaltungskuppel. Ein Schreibtisch aus Flexplastik und zwei daran gestellte Stühle waren die einzigen Möbelstücke. Schwächelnde Leuchtelemente an der Decke spendeten spärliches Licht. Die Luft roch verbraucht. Die Umwälzfilter arbeiteten schon länger nur mangelhaft. Dass die gesamte Kolonie noch nicht erstickt war, grenzte an ein Wunder.
Gor Kon wartete, bis Hauptmann Asimov Shiyan hineingeführt und den Raum verlassen hatte. Dann setzte er sich auf einen der Stühle und bedeutete der chinesischen Ärztin gestisch, auf dem anderen Platz zu nehmen.
Chen tat es. Dabei versuchte sie, den Gesichtsausdruck des Marsianers zu deuten. Erfolglos. Ob er nun wütend, ängstlich oder glücklich war, wusste niemand außer ihm selbst.
„Warum bin ich hier?“, fragte sie und hoffte, dass er die Woge Angst, die gerade ihre Stimme zittern ließ, nicht missverstand.
Der ZS-General musterte sie. „Dr. Sanshus Tod ist weit mehr als bedauerlich, Dr. Chen. Unsere Gemeinschaft steht vor enormen Herausforderungen.“
„Das ist mir bewusst.“ Shiyan bemühte sich, aufrecht zu sitzen. „Ich habe getan, was möglich war.“
„Keine Sorge“, erwiderte Gor Kon. „Ich mache Sie nicht für den Verlust verantwortlich. Ganz im Gegenteil. Sie sind eine fleißige Soldatin.“
„Ich bin Ärztin“, widersprach die Chinesin reflexartig und biss sich auf die Unterlippe.
Das brachte den General tatsächlich zum Schmunzeln. Wie einen Erwachsenen, der ein bockiges Kind darüber aufklärte, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gab. „Sie sind Teil des Militärs, Dr. Chen. Es hat für Ihre Ausbildung gesorgt, Sie unterstützt, Ihnen Nahrung gegeben, als Sie Hunger hatten. Auch wenn Sie noch nie eine Waffe abgefeuert haben, gehören Sie genauso zu uns wie Hauptmann Asimov. Das wird sich nie ändern. Außerdem: In diesem Krieg sind wir alle Soldaten. Notgedrungen!“
Darauf reagierte Shiyan nur mit ratlosem Schweigen.
Gor Kon redete weiter: „Man respektiert Sie in der Kolonie. Sie setzen sich für die anderen Bewohner ein, bringen stetig gute Leistungen auf Ihrem Fachgebiet. Genauso wie es Dr. Sanshu tat. Deshalb ernenne ich Sie zu seiner Nachfolgerin.“
Chen entfuhr ein Ächzen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und es erst recht nicht gewollt. „Ich bezweifle, dass ich ein geeigneter Verbindungsoffizier bin.“
Der ZS-General schüttelte den Kopf. „Für diesen Posten habe ich sie nicht ausgewählt.“
Shiyan runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht. Was soll ich denn sonst tun?“
„Etwas viel Wichtigeres“, antwortete Gor Kon. „Bevor Sie jedoch Näheres erfahren, muss ich dafür sorgen, dass Sie auch die passenden Berechtigungen erhalten.“ Auf der Schreibtischplatte war ein breites Touchscreenfeld installiert. Darüber bekam der General Zugriff zum Zentralcomputer der Kolonie. Er legte seine rechte Hand darauf und aktivierte es. Ein Hologramm leuchtete über dem Tisch auf. Es zeigte die Dienstakte der Chinesin mitsamt Porträtfoto.
„Computer, Diktiermodus!“, befahl Gor Kon. „Dr. Shiyan Chen. Beförderung zum ZS-Kommandeur erster Ordnung. Geheimhaltungsstufe wird von 0 auf 4 erhöht. Gültig ab jetzt!“ Unter dem Foto der Ärztin erschien in rot leuchtenden Buchstaben die Schrift mit dem aktualisierten Rang. Der General diktierte weiter: „Zugang zu allen Informationen und den Arbeitsstätten von „Projekt Neuer Mensch“ wird erteilt. Aufnahmepause!“ Er stand von seinem Stuhl auf, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Shiyan durchdringend an. „Sie haben sicher einige Fragen, Dr. Chen. Jetzt kann ich Ihnen die Antworten darauf liefern.“
Die Lippen der Chinesin fühlten sich wie taub an.
„Was ist das für ein Projekt?“, fiel ihr als Einziges ein.
„Dr. Sanshu war nicht der, für den Sie ihn gehalten haben. Und die Heping-Kolonie kein einfacher Truppenstützpunkt. Während die Truppen an der Oberfläche und jenseits der Atmosphäre kämpften, arbeitete Ihr Vorgänger hier unten an einer Möglichkeit, die Bürger der Union widerstandsfähiger zu machen.“
„Ich verstehe nicht“, murmelte Shiyan verwirrt.
Gor Kons Miene verfinsterte sich. „Der Krieg läuft sehr schlecht für die UuS. Unsere Waffen sind veraltet, die Moral der Kämpfer sinkt. Militärisch werden wir scheitern, wenn wir uns auf konventionelle Techniken verlassen. Ich sagte eben ja schon: Wir alle sind Soldaten. Dr. Sanshu wollte dafür sorgen, dass jeder Bürger die Anforderungen erfüllt, um dieser Rolle gerecht zu werden. Sein Ziel war es, im wahrsten Sinne des Wortes, einen neuen Menschen zu erschaffen.“
Chen schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Dr. Sanshu war Chirurg. Sonst nichts.“
„Er war auch Genetiker“, erklärte der General. „Diese Qualifikation musste er aus nachvollziehbaren Gründen vor Ihnen geheim halten. Anfang des Jahres gelang ihm endlich der Durchbruch. Der Neue Mensch existiert. Leider benötigt er noch ärztliche Unterstützung. In der Art, wie nur Sie, Dr. Chen, sie ihm geben können.“
„Kann ich nicht … ich meine … wie sollte ich …?“
„Dr. Sanshu selbst bat mich, Sie hinzuziehen zu dürfen. Er war sehr angetan von Ihren Fähigkeiten. Mehr noch: Er vertraute Ihnen.“ Gor Kon streckte eine Hand zur Tischplatte aus und deaktivierte das Touchscreenfeld. Das Hologramm mit Shiyans Dienstakte verblasste. „Obwohl Sie als Chirurgin arbeiten, haben Sie in Ihrem Studium genug Qualifikationen erworben, um das Projekt zumindest bis zum Eintreffen anderer ZS-Wissenschaftler zu betreuen, es quasi am Leben zu erhalten.“
Chen wusste, dass sie keine Wahl hatte. Zu fragen, was geschah, wenn sie sich weigerte, war Zeitverschwendung. „Was genau soll ich machen?“
Kapitel 3
Das Labor für das „Projekt Neuer Mensch“ befand sich im zweiten Untergeschoss der Verwaltungskuppel. Bis jetzt hatte Shiyan gar nicht gewusst, dass dieses Stockwerk überhaupt existierte.
General Kon begleitete sie dorthin. Der Zugang war nur über einen Antigravitationsschacht möglich. Der AS war eine schlauchförmige Röhre, in der die Gesetze der Schwerkraft kurzfristig aufgehoben wurden. Menschen konnten darin hoch schweben oder langsam zu Boden sinken.
In jeder Kuppel gab es für die unterschiedlichen Etagen mindestens einen AS. Um sich in ihm kontrolliert fortzubewegen, brauchte es ein Grav-Armband, wie es Chen und alle anderen Einwohner trugen. Darin war auch ein Kommunikator eingebaut, das sogenannte „Komflash“.
Das Labor wurde mit einem Lasergitterrahmen geschützt. Der war so engmaschig eingestellt, dass nicht mal eine Stubenfliege hindurch schlüpfen konnte, ohne von den Lichtstrahlen in kleinste Stücke zerschnitten zu werden. Einzig der im Rahmen integrierte DNS-Scanner deaktivierte sie. Sofern die richtige Person ihre Hand in seine kugelförmige Aushöhlung legte.
General Gor Kon gehörte dazu. So wie Shiyan jetzt auch.
Das Labor an sich war moderner als alles, was sonst auf dem Mars existierte, und funktionierte problemlos.
Beeindruckend!, dachte die Ärztin und fragte sich, wie es möglich war, trotz der Not und all des Mangels in der Kolonie die Technologie hier unten mit genügend Energie zu versorgen.
Oder hatte genau das die Probleme auf der Oberfläche erst verursacht?
„Das ist von nun an Ihr Reich“, erklärte Gor Kon, während er sie durch den circa siebzig Quadratmeter großen, mit unzähligen Decken-Leuchtelementen erhellten Raum führte. „Bis auf Weiteres bleiben Sie hier unten.“
Das ließ Shiyan abrupt stehenbleiben. „Aber was ist mit meinem Dienst? Die Kolonie braucht jeden Arzt.“
Der General stellte sich vor sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Das hier ist wichtiger.“ Er war fast zwei Köpfe größer als sein Gegenüber. Das schien er nun skrupellos zum eigenen Vorteil nutzen zu wollen. „Die da oben sind Kollateralschäden. Dr. Sanshu wusste das eigentlich. Leider konnte er sich nicht von seinem früheren Leben als einfacher Arzt verabschieden. Er wollte allem gerecht werden. Gestern hat er den Preis dafür gezahlt und damit das gefährdet, was unser Überleben sichern soll. Sie sind jünger als er, Dr. Chen. Aber auch nicht unverwundbar. Deshalb bleiben Sie von jetzt an hier unten. Das Labor verfügt über eine Dusch- und WC-Einheit. Eine Schlafpritsche wurde ebenso aufgebaut. Drei Mal pro Tag bringt ein Soldat Ihnen Essen.“
Es brachte nichts, zu widersprechen. Wie zuvor. Dieses Mal jedoch tat es Shiyan trotzdem: „Meine Aufgabe besteht darin, Menschenleben zu retten. Nicht als Wissenschaftler, sondern als Arzt. Sterben Ihre „Kollateralschäden“ dort oben, bedeutet das unser aller Untergang. Erst recht, falls stimmt, was Sie sagen, dass der Krieg für die Union schlecht läuft. Ohne die Menschen an der Oberfläche wird die Heping-Kolonie überrannt. Die Abwehrgeschütze mögen wieder funktionieren. Aber sie bieten keinen hundertprozentigen Schutz. Was ist, wenn ein Landungstrupp der TEH es bis zu uns schafft?“
„Ihre Einwände sind zur Kenntnis genommen“, erwiderte der General ungerührt. „Kommen Sie. Ich möchte Ihnen Ihren neuen und einzigen Patienten zeigen.“
Er ging zu der gegenüberliegenden Wand. Dort waren nicht nur ein Kühlschrank, Geräte wie Gensplicer, Brutbeschleuniger, ein Spektrum-Mikroskop und Genkartographen eingebaut. Chen erkannte auch eine vertikale Stasiskammer. Ihr Plexiglasdeckel war von innen nur leicht beschlagen. Deshalb konnte die Ärztin deutlich die nackte Person erkennen, die darin ruhte. Es war ein Mann. Dem Körperbau nach zu urteilen ein gebürtiger Marsianer. Seine Haut wirkte seltsam glatt, ohne Haare, Leberflecke oder Narben.
Der General deutete auf ihn. „Das ist der Neue Mensch. Alles an ihm ist besser. Er ist stärker, schneller, schwerer verwundbar. Sein Stoffwechsel und das respiratorische System sind so robust und erweitert worden, dass sie sogar die Marsatmosphäre verwerten können.“
„Unglaublich!“, musste Chen fasziniert zugeben. Sie näherte sich der Stasiskammer. „Wie hat Dr. Sanshu das geschafft? Wer ist dieser Mann hier?“
„Ein Patriot“, antwortete der General. „Ein Freiwilliger, der an die Zukunft glaubt.“
Innerlich zuckte die Ärztin zusammen. Gor Kons Worte waren während der letzten Jahre zu oft für platte Rekrutierungswerbung genutzt worden, als dass sie noch irgendeinen denkenden Menschen überzeugen konnten. Vielleicht war es dieses Mal ausnahmsweise die Wahrheit. Shiyan bezweifelte es. Ihre Faszination verwandelte sich zu Ekel.
„Wie heißt er?“, fragte sie bemüht ruhig.
„Das ist unwichtig.“ Die Stimme des Generals bekam einen harten Unterton. „Für die Dauer Ihres Aufenthalts in diesem Labor bleibt der Neue Mensch bewusstlos. Ihre Aufgabe ist es, ihn stabil zu halten.“
Chen beschloss, sich nicht einschüchtern zu lassen. „Deshalb brauche ich so viele Informationen wie möglich.“
„Die werden Sie auch bekommen.“ Gor Kon deutete auf die Mitte des Raumes. Dort standen ein Stuhl und ein Schreibtisch mit Touchscreenfeld. „Sie erhalten Zugriff auf Dr. Sanshus Dateien, seine Versuchsprotokolle. Ihre Fragen nach dem Wann, Wie und Warum werden bald beantwortet. Ich habe heute noch anderes zu tun. Falls Sie etwas benötigen, melden Sie sich über Komflash. Sie werden dann direkt mit Hauptmann Asimov verbunden. Ich habe dafür gesorgt, dass er Ihnen ganztägig zur Verfügung steht. Guten Tag, Dr. Chen.“ Er wandte sich zum Ausgang mit dem Lasergitterrahmen und verließ das Labor.
Eine Weile blieb Shiyan wie erstarrt stehen und blickte ihm nach. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und aktivierte den Computer.
Kapitel 4
Es dauerte nicht lange, bis Shiyan Chen die Videodatei mit dem Titel „Willkommensgruß an die Zukunft“ im Speicher entdeckte. Kaum hatte sie sie angewählt, erschien Dr. Sanshus Kopf als Hologramm über der Schreibtischplatte und begann zu sprechen: „Wer immer Sie sind, Sie wurden für würdig befunden, das Projekt weiterzuführen, durch das unsere Spezies endlich die Galaxie bevölkern kann. Ohne Angst, an den Umweltbedingungen eines fremden Planeten oder durch kosmische Strahlung auf dem Weg in eine zukünftige Heimat zugrunde zu gehen. Der Neue Mensch wird stärker sein. Besser. Der Krieg, in dem wir uns befinden, endet irgendwann. Bevor es zu spät ist, erkennen hoffentlich alle Beteiligten, dass wir uns nur zusammen dem Morgen stellen können.“
Shiyan fragte sich, ob der letzte Satz mit den Generälen der „Zashchitnaya Stena“ abgesprochen war. Insbesondere Gor Kon würde protestieren.
„Sollten Sie sich in meinem Labor in der Heping-Kolonie aufhalten“, redete Dr. Sanshus Hologramm weiter, „so besitzen Sie dort alles, was Sie brauchen, um die Arbeit zu vollenden. Im Kühlschrank lagern die Seren, mit denen ich aus einem einfachen Mann ein Wunder der Wissenschaft machte. Was Sie darüber hinaus entdecken, mag Sie schockieren: als Erstes natürlich den nackten, sedierten Marsianer. Seiner Freiheit beraubt, hilflos. Auch andere Gegebenheiten mögen in Ihnen moralische Zweifel hervorrufen. Aber bedenken Sie, dass die erbrachten Opfer nicht umsonst sind. Zeigen Sie Mitgefühl auf gesamtmenschlicher Ebene!“
Chen hörte die Worte aus dem Munde eines Kollegen, den sie respektiert hatte. Jetzt nicht mehr. Sie fühlte sich wütend. Verraten. Unabhängig davon, was er hatte erreichen wollen, war Dr. Sanshu über eine Grenze getreten, die kein Arzt überschreiten durfte. General Kons Beschreibung der Testperson als „Freiwilliger“ war also ebenso gelogen.
Shiyan war versucht, die Hologramm-Wiedergabe zu beenden. Sie ließ es. Je mehr sie über „Projekt Neuer Mensch“ erfuhr, desto besser konnte sie den besinnungslosen Mann in der Stasiskammer beschützen. Zumindest solange sie allein für ihn verantwortlich war.
Trotz all der Not auf der Marsoberfläche hoffte Chen, dass sobald keine ZS-Verstärkung kam. Auch wenn sich das absurd anhören musste.
Während der nächsten Minuten erklärte Dr. Sanshus Hologramm seine Vorgehensweise bei dem Neuen Menschen. Schritt für Schritt. Die Wissenschaftlerin Dr. Shiyan Chen nahm das Gehörte nüchtern zur Kenntnis. Die Humanistin in ihr dagegen verurteilte es und verfluchte ihren Kollegen.
Kapitel 5
Überall waren Optik-Sensoren. In der Decke, den Wänden, zwischen den Geräten. Shiyan erkannte die knopfgroßen, gläsernen Kügelchen für die Video-Überwachung problemlos. Schließlich gab es sie in jeder ZS-Militäreinrichtung. Allerdings nicht in der Menge wie hier unten.
Allein die Nische im hinteren Bereich des Labors, in der sich die Dusch- und WC-Einheit befand, blieb unbeobachtet. Direkt daneben hatte man die Schlafpritsche aufgebaut.
Audio-Sensoren, die sogenannten „Zhuk“ schienen nicht zu existieren. So unauffällig wie möglich durchsuchte Chen den Raum nach den ihr ebenso bekannten, daumennagelgroßen, rundlichen Plättchen. Welcher Soldat auch immer sie überwachte, er durfte nur sehen, nicht hören, was sie tat. Das brachte ihr eine gewisse Freiheit ein. Für den Fall, dass sie mehr tun wollte, als nur den besinnungslosen Marsianer zu beschützen. Ihre Motivation zum Aufruhr wuchs jedenfalls.
Dr. Sanshus Hologramm hatte nicht zu viel versprochen, was die Ausstattung des Labors anging. Die Stasiskammer alleine war schon ein technologisches Wunderwerk. Mit den unterschiedlichsten Sensoren, Injektionskanülen und sogar Robotik-Armen für chirurgische Eingriffe ausgestattet. Vom Blutdruck bis hin zur Zellteilung des „Insassen“ konnte man alles überwachen und korrigieren, sollte es nötig werden. Nicht mal der Deckel musste dafür geöffnet werden. Wäre eine solche Kammer den übrigen Kolonie-Ärzten zur Verfügung gestellt worden, hätten viele Leben gerettet werden können. Einschließlich dem von Dr. Sanshu. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrte.
Die Seren für den Neuen Mensch waren komplett vorhanden. Genauso wie die Ingredienzien, mit denen sie hergestellt worden waren.
Shiyan untersuchte mehrere davon unter dem Spektrum-Mikroskop. Sie staunte über die offensichtliche Genialität ihres verstorbenen Kollegen. Gleichzeitig war ihr bewusst, wie sehr er die Gesetze von Natur und Moral verletzt hatte. Gentherapien am Homo sapiens wurden bereits seit fünfzig Jahren vorgenommen. Besonders um Erbkrankheiten auszumerzen und jedem die Chance zu geben, ein gesundes und glückliches Leben zu führen. Was Dr. Sanshu mit seinem Projekt nun tat, war, etwas zu erschaffen, das die Evolution nie hervorgebracht hätte. Die Person in der Stasiskammer galt, wenn man allein ihre DNS betrachtete, technisch gesehen noch nicht mal mehr als Mensch. Und sie hatte nicht darum gebeten, so zu werden.
Irgendwann im Laufe des Tages kam Hauptmann Asimov mit einem Tablett herein.
„Mittagessen, Doktor!“, verkündete er und stellte es auf den Schreibtisch. „Guten Appetit.“
„Danke“, murmelte Chen, wandte sich vom Mikroskop ab und kam auf den Soldaten zu. In seinem Gesicht meinte sie, einen Ausdruck von Neugier zu sehen. Zweifellos hatte er die Zugangsberechtigung für das Labor, sonst wäre er nicht durch den Lasergitterrahmen gekommen. Wie viel wusste er? Hatte er bereits Dr. Sanshu zur Verfügung gestanden und womöglich selbst den armen Marsianer angeschleppt, damit an diesem Experimente gemacht werden konnten?
Shiyan beschloss, es herauszufinden. „Wie lange sind Sie schon für den Bereich hier unten tätig, Hauptmann?“
Das war Asimov sichtlich unangenehm. Der Mann, dem extrem stämmigen, gedrungenen Körperbau nach zu urteilen in einer Umgebung mit erhöhter Gravitation aufgewachsen, wirkte nicht mehr wie der unerschütterliche Soldat, der er sonst war. Eher wie ein verunsicherter Teenager. Er öffnete den Mund, um zögerlich zu erwidern: „Ich bin mit dem Projekt an sich nicht vertraut, Doktor. Meine Aufgaben beschränken sich auf rein körperliche Tätigkeiten. Botengänge zum Beispiel. Wünschen Sie etwas?“
Eine klare Antwort auf meine Frage!, dachte Chen und sagte: „Nein. Ich möchte nur einordnen, inwieweit der vorige Wissenschaftler in diesem Labor auf ihre Mithilfe gezählt hat.“
„Darüber darf ich nicht sprechen!“, kommentierte Asimov und flüchtete sich hinter seine stoisch soldatische Fassade. „Wäre das alles?“
„Ja.“ Shiyan hob demonstrativ das rechte Handgelenk mit dem Grav-Armband. „Ich weiß ja, wie ich Sie erreichen kann.“
Asimov nickte bloß und verließ das Labor.
Die Ärztin setzte sich an den Schreibtisch und betrachtete das Tablett. Ein Suppenteller stand darauf. Gefüllt mit einer großen Portion Sojanudeln, mehr als jeder andere Kolonie-Bewohner momentan erhielt. Vielleicht war das ihr „Weihnachtsgeschenk“, was sie tatsächlich schmunzeln ließ.
Dazu bekam sie eine Literflasche mit gefiltertem Wasser sowie Messer und Gabel. Chen nahm das Besteck und aß. Dabei wanderte ihr Blick immer wieder zur Stasiskammer.
Kapitel 6
Laut der Kammersensoren befand sich der Neue Mensch in einer Art permanenten REM-Schlafes. Seine Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten sich konstant. Was träumte er? Verarbeitete sein Gehirn die Veränderungen, die Dr. Sanshus Seren ihm aufgezwungen hatten? Dachte er? Wusste er, was man ihm angetan hatte?
Seine Lebenszeichen waren jedenfalls stabil.
Chen musste nichts tun. Außer sich zu fragen, wie es für sie und ihren Patienten nun weiterging. Als frisch beförderter Kommandeur erster Ordnung mitsamt Geheimhaltungsstufe 4 landete sie sofort vor einem Kriegsgericht, falls sie sich den Befehlen von General Kon widersetzte. Der Neue Mensch sollte bewusstlos bleiben! Die Optik-Sensoren – und wahrscheinlich auch das Feedback der Labormaschinen – würden den überwachenden Soldaten verraten, sobald Shiyan etwas daran änderte. Zumal es bei der Stasiskammer nicht einfach einen Aus-Knopf gab. Es bedurfte mehrerer Handlungsschritte, um die Tiefschlafphase der darin liegenden Person zu beenden. Als Erstes musste ihr Stoffwechsel stimuliert werden. Genauso wie die Gehirnaktivität. Dann folgte die Flüssigkeitszufuhr und, und, und …
Blieb eine nüchterne Erkenntnis: Den Marsianer unbemerkt aufwecken, ihn aus seinem Gefängnis befreien, das war so gut wie unmöglich.
Es sei denn, die Energieversorgung des Labors war in irgendeiner Weise störungsanfällig. Nicht so sehr wie die beim Rest der Kolonie. Hier unten gab es sicherlich mindestens einen Hilfsgenerator. Ansonsten wären die vergangenen Wochen nicht so spurlos an den Geräten vorüber gegangen. Erst recht nicht an der Lebenserhaltung für die Stasiskammer. Auch der Neue Mensch brauchte noch eine Atmosphäre und Nährstoffe.
Aber kein System war perfekt. Und Chen hatte mittlerweile genug Erfahrungen gesammelt, um gewisse Sollbruchstellen zu entdecken. Sie beschloss, sich unauffällig auf die Suche danach zu machen.
Sie fragte den Computer nach dem Prozentsatz der Sauerstoffeinspeisung in die Stasiskammer. Als Grund gab sie Toleranzschwankungen im Blutbild des Neuen Menschen an. Sollte einer der Soldaten ihre Anmerkungen mit all den Fachwörtern lesen, würde er sich hoffentlich gelangweilt abwenden. Dann wollte sie das Verhältnis in Bezug auf die Laborbelüftung wissen. Auch nach der Maximalleistung des Kühlschranks und dem Energieverbrauch der Decken-Leuchtelemente erkundigte sie sich. Schlussendlich forderte sie eine Liste eingelagerter Chemikalien an. Jede Anfrage benötigte für das Protokoll einen Eingabegrund. Chen gab „Stabilisierung“, „Stoffwechsel“, „Projekterhalt und -sicherung“ und noch ein paar andere, ähnliche Begriffe ein. Sie bezweifelte, dass diese einer fachlichen Prüfung standhielten, falls es zu einer Untersuchung kommen sollte. Was sie nicht hoffte.
Aber da sie im Moment die einzige qualifizierte Person in der Kolonie zu sein schien, der man „Projekt Neuer Mensch“ anvertrauen konnte, riskierte sie es. Und wurde belohnt.
Was fing sie nun mit diesem Wissen an? Wie viel Mut steckte in ihr?
Angenommen, sie legte die Überwachungssensoren lahm und weckte den Marsianer aus der Stasis, was geschah dann? Die Verwaltungskuppel wimmelte vor bewaffneten Soldaten. Wo sollte sie den Mann hinbringen? Jenseits der Koloniegebäude gab es nur Wüste. Selbst wenn der Neue Mensch bereits fähig war, in der Marsatmosphäre zu atmen, die Distanz zur nächsten Kolonie, egal ob von der UuS oder der TEH, betrug mehr als zweihundert Kilometer. Der Trümmerregen der letzten Monate hatte so gut wie alle Fahrzeuge zerstört. Die wenigen, noch funktionierenden Rover wurden streng bewacht. An einen Diebstahl war nicht zu denken.
Die größte Unsicherheit war jedoch eine ganz andere. Sie betraf das Verhalten des Neuen Menschen an sich. Nicht nur schießwütige Soldaten konnten ein Problem darstellen. Laut Dr. Sanshus Hologramm besaß der genetisch veränderte Marsianer ein, wie er es ausdrückte: „raubtierähnliches Verhaltensrepertoire. Um in einer feindlichen Umgebung überleben zu können, müssen wir jegliche Gefahr für unsere Existenz vernichten. Das bedeutet nicht, sinnlose Kriege untereinander zu führen. Wir alle gehören derselben Spezies an. Ein fremdes Ökosystem, so spärlich es auch ausgebildet sein mag, bietet nicht automatisch Platz für uns. Deshalb ist es wichtig, sich in diesem zu behaupten. Und, wenn nötig, die Lebensform zu verdrängen, die die gleiche ökologische Nische einnimmt wie wir. Bedauerlicherweise lässt sich die Effizienz des Raubtier-Verhaltens erst überprüfen, sobald der Neue Mensch erwacht ist und mit seiner Umwelt interagiert. Auch die Frage, ob er uns ursprüngliche Homo sapiens als artfremd – und damit als Bedrohung – einstuft, kann nicht auf theoretischem Wege beantwortet werden. Ausführliche Versuche müssen folgen. Es wird empfohlen, das beteiligte Personal mit Schutzkleidung zu versehen. Körperlich dürfte der Neue Mensch jeder Person überlegen sein.“
Den Marsianer zu befreien hieß, Kolonie-Bewohner in Gefahr zu bringen. Shiyan Chen hatte den hippokratischen Eid abgelegt. Besonders ein Satz daraus machte ihr zu schaffen: Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil, ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.
Dem Marsianer war zweifellos Unrecht zugefügt worden. Um ihn vor weiterem zu beschützen, müsste sie ihn freilassen. Und würde dadurch das Leben aller riskieren, denen er begegnete.
Eine widersprüchliche Ausgangslage in einer Zeit voller Chaos, Leid und Tod. Shiyan blieb regungslos am Schreibtisch sitzen und verlor sich in Grübeleien.
Die Entscheidung, was zu tun war, wurde ihr schließlich abgenommen. Von jemandem, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Kapitel 7
Hauptmann Asimov stürmte in das Labor und rannte auf Chen zu.
Ruckartig stand sie vom Schreibtisch auf. Die Miene des Soldaten verriet nackte Angst, aber auch Entschlossenheit.
Er hatte die Ärztin gerade erreicht, da schalteten sich sämtliche Decken-Leuchtelemente aus. Tiefste Finsternis breitete sich aus. Begleitet von einem allzu bekannten Geräusch, das nicht nur die Ohren folterte, sondern sogar die gesamte Umgebung zum Vibrieren brachte. Es war der Bombenalarm und das Knallen mehrerer Explosionen, die jenseits des Labors stattfanden.
Shiyan spürte die Hände des Soldaten auf ihrem Rücken, seinen warmen Atem im Gesicht, als er brüllte: „Wir wollen beide dasselbe. Also verhalten sie sich ruhig!“
Den Gefallen tat sie ihm nicht, sondern wich zurück und stieß mit der linken Hüfte gegen den Schreibtisch. Stechender Schmerz war die Belohnung dafür. Die Notbeleuchtung schaltete sich ein und vertrieb mit ihrem rötlichen Glimmen die Dunkelheit. Auch der Alarm verstummte.
Chen und Asimov trennten nur wenige Zentimeter.
„Was passiert hier?“, keuchte sie. „Sind die Abwehrgeschütze wieder …?“
„Nein“, widersprach der ZS-Hauptmann. „Dieser Angriff kommt von innen.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich habe die Optik-Sensoren ausgeschaltet, die Energieversorgung manipuliert und genug Sprengsätze gelegt, um General Kon für die nächsten Stunden zu beschäftigen. Wir haben Zeit, aber nicht mehr viel.“ Asimov ging zur Stasiskammer und schlug mit der rechten Faust dagegen. „Xenius Willof muss frei sein!“
„Was …? Wer …?“
„Die Schande darf nicht länger verborgen sein. Holen Sie ihn heraus! Ich weiß, dass Sie das vorhaben.“
Shiyan stutzte. „Wie kommen Sie darauf?“
„Ihre Suchanfragen an den Computer“, antwortete der Hauptmann. „Ich habe sie gelesen. Und gelöscht, damit uns niemand auf die Schliche kommt.“
„Ich wollte nie …“
„Lügen Sie mich nicht an!“, brüllte der Mann verzweifelt. „Sie sind ein besserer Mensch als Dr. Sanshu. Ich habe gesehen, wie Sie um das Leben meiner Kameraden gekämpft haben. Ihren Einsatz für unser Wohlergehen.“ Er deutete auf den Marsianer in der Stasiskammer. „Jetzt braucht Xenius Sie!“
Chen schickte einen kurzen Blick zu einem der unzähligen Optik-Sensoren in der Decke. Hoffentlich hatte der Hauptmann sie tatsächlich deaktiviert.
„So einfach ist das nicht!“, erklärte sie.
„Das weiß ich. Deshalb brauche ich ja auch Sie! Ihre Fähigkeiten.“ Er trommelte sich auf die Brust, wie ein Gorilla. „Schließlich habe ich dafür gesorgt, dass Sie in diese Position gelangen. Sie können mir glauben, Dr. Sanshus Tod nicht wie einen Mord aussehen zu lassen, war schwer.“
Shiyans Hals zog sich zu. Sie dachte an den vorigen Tag, den Kampf um Sanshus Leben. Sein Herz, das sie nicht wieder zum Schlagen hatte bringen können. Weil es von jemand anderem zum Stillstand gebracht worden war.
„Ich bin nicht stolz auf diese Tat!“, schien Asimov den Drang zu verspüren, sich zu rechtfertigen. „Aber das größte Verbrechen in der Heping-Kolonie wurde an Xenius Willof verübt. Um es wieder gutzumachen, ist mir jedes Mittel recht.“
Chen machte sich keine Illusionen. Sollte der Hauptmann denken, dass sie ihm in den Rücken fiel, wäre sie genauso tot wie Dr. Sanshu. „Wer ist dieser Mann denn für Sie?“
Das brachte Asimov dazu, ruhiger zu werden. Trauriger. „Er war … der beste Freund, den ich je hatte. Fleißig, bescheiden. Man konnte mit ihm lachen, saufen, reden. Wenn man Probleme hatte, wusste er eine Lösung. Er war einer der zivilen Einwohner der Heping-Kolonie. Als unsere Einheit hier eintraf, gehörte er zu den Wenigen, die uns willkommen hießen. Er versprach mir sogar, dass wir zusammen Weihnachten feiern. Abseits von all dem Krieg. Er wollte mir das traditionelle Essen seiner Familie kochen. Obwohl er selbst kaum genug zu beißen hatte.“ Wut mischte sich in Asimovs Stimme. „Dann wurde Dr. Sanshu auf ihn aufmerksam. Xenius war Wasserstoff-Farmer. Seine Felder liegen in der Nähe des Valles Marineris, östlich der Tharsis-Region. Fünfzehn Jahre lang hat er dort geschuftet. Dabei war er allen möglichen Umwelteinflüssen ausgesetzt: Strahlung, bestimmten Erzen. Das machte ihn für Sanshu sehr interessant. Zu Beginn unserer Stationierung nahm man auf seinen Befehl hin von jedem Bewohner Blut- und Gewebeproben.“
„Ich weiß“, murmelte Shiyan Chen. „Um im Notfall schneller die Individualmedikamente anpassen zu können und Kandidaten für eine Blutspende zu finden. Diese Maßnahme hat vielen das Leben gerettet.“
Asimov machte eine wegwischende Geste. „Dr. Sanshu hat es aber aus einem anderen Grund gemacht. Er brauchte einen Katalog mit geeigneten Testpersonen für sein Projekt. Xenius passte als Einziger. Ich war nicht der Erste, der Sanshu zugeteilt wurde. Mein Vorgänger war Hauptmann Silk. Ein echtes Arschloch. Er entführte Xenius Willof und brachte ihn in das Labor. Ich wusste nichts davon, dachte, Xenius hätte zusammen mit den anderen Zivilisten den Planeten verlassen. Dann starb Silk beim Trümmerregen. Ich wurde sein Nachfolger. Da sah ich meinen Freund wieder. Er lag wie tot in der Stasiskammer. Sein Aussehen hatte sich verändert. Aber es war ganz klar Xenius. Dr. Sanshu wusste nicht, dass wir uns kannten. Er protzte nur, „was für eine tolle Vorlage dieser einfache Marsianer doch ist“. Als ob es um einen bloßen Haufen Fleisch ging. Nicht um einen Menschen. Ich wollte Xenius retten.“ Asimov schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich war nur zu dumm dafür. Ich brauchte jemanden mit Ahnung. So wie Sie, Dr. Chen. Ich wusste, dass der Bastard Sanshu große Stücke auf Sie hielt. Wie oft er über Sie geredet hat, wenn …“ Der Hauptmann spuckte auf den Boden. „Ich ahnte, dass er Sie als Nachfolgerin ansah, falls ihm etwas geschah. Ich hoffte es und behielt Recht.“ Asimov legte seine riesigen Hände zu einer bittenden Geste zusammen. „Sie sind ein guter Mensch, Dr. Chen. Bitte befreien Sie Xenius!“
Wie soll ich Ihnen erklären, dass Ihr Freund vielleicht eine Gefahr für uns alle ist, dachte Shiyan verzweifelt.
Asimov machte es ihr noch schwerer, als er in seine rechte Hosentasche griff und eine Schallimpuls-Pistole herauszog und sie auf die Ärztin richtete. „Sie werden ihn jetzt aufwecken!“
Chen wusste, dass die Waffe gebündelte Schallwellen verschoss. Damit konnte man Menschen leicht betäuben, aber auch töten.
Welche Einstellung Asimov gewählt hatte, ließ sich nicht erkennen.
Im dämmrigen Rotlicht der Notbeleuchtung zu sehen war dagegen General Gor Kon, der durch den ausgeschalteten Lasergitterrahmen ging. Von hinten schlich er sich an den Hauptmann heran. Dabei hielt er ein Schallimpuls-Gewehr im Anschlag.
Chen versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie scheiterte.
Asimov drehte sich um, feuerte. Und die eigentliche Katastrophe folgte.
Kapitel 8
Gor Kon wurde in die Brust getroffen. Asimovs Pistole war offensichtlich auf „Töten“ gestellt, denn der General spuckte Blut, kaum dass die Schallimpulse seine Rippen erreichten und diese eindrückten. Dennoch erwiderte er reflexartig das Feuer, verfehlte jedoch seinen Gegner.
Shiyan warf sich flach auf den Boden. Irgendwo hinter ihr ertönte ein lautes Krachen, vermischt mit einem Zischen. Der Impuls aus Gor Kons Waffe hatte eines der Laborgeräte getroffen.
Der General sank auf die Knie. Seine Hände besaßen nicht mehr genug Kraft, um das Gewehr festzuhalten. Es rutschte ihm aus den Fingern.
Hauptmann Asimov ging auf ihn zu und richtete seine Schallimpuls-Pistole auf die Stirn des Vorgesetzten.
Er wollte ihn hinrichten, wie Chen angewidert begriff. Als ob es in den letzten Monaten nicht genug Tote gegeben hatte.
Die gleiche Entschlossenheit, mit der sie stets versuchte, zwei sich prügelnde Soldaten voneinander zu trennen, ließ sie auch jetzt aufstehen und auf Asimov zu stürmen. Der bemerkte sie nicht, was ihr die Möglichkeit gab, ihm einen Tritt gegen die rechte Hand mit der Waffe zu geben. Ein Schuss löste sich daraus und verfehlte das ursprüngliche Ziel um wenige Zentimeter.
Shiyan hatte während der Grundausbildung Selbstverteidigungskurse absolviert. Leider fehlte ihr für diese Art von Kampf jegliches Talent. Was ihr zum Verhängnis zu werden drohte. Zwar gelang es ihr, Asimov von der Tötung des Generals abzubringen. Entwaffnen konnte sie ihn nicht.
Stattdessen richtete der Hauptmann seine Pistole nun auf sie. „Du verdammtes Miststück! Ich …!“ Er verstummte und starrte ungläubig an der Ärztin vorbei zur Wand hinter ihr. „Oh … Gott, Xenius!“
Obwohl sie Todesangst hatte, folgte Chen seinem Blick. Und sah den Neuen Menschen, wie er den Deckel der Stasiskammer öffnete, indem er ihn mit bloßen Händen aus der Halterung riss. Der Schallimpuls aus Gor Kons Gewehr war darin eingeschlagen und hatte so die Schlafphase unterbrochen. An sich unmöglich, wenn man bedachte, wie viele Schritte dafür eingeleitet werden mussten. Und doch beängstigende Realität.
Der genetisch veränderte Xenius Willof stieg aus der Kammer. Er schaute sich um, musterte mit fragendem Gesichtsausdruck Asimov und Chen. Er schien weder zu wissen, wo noch wer er war.
„Xenius?“, fragte der Hauptmann sanft und ließ die Pistole sinken. „Du bist frei. Lass uns abhauen!“ Er ging langsam auf seinen Freund zu.
Shiyan dagegen wandte sich General Gor Kon zu. Mittlerweile lag er auf dem Boden. Aus seinem Mund sickerte beständig Blut. Er hatte schwere innere Verletzungen, so viel konnte die Ärztin bereits erkennen.
„Erschießen Sie …“, keuchte er ihr zu. „Beide …!“ Er versuchte, sein Gewehr zu greifen. Es lag nur wenige Zentimeter entfernt. Zu weit für ihn. Er gab noch einen blubbernden Laut von sich. Und starb.
Chen blickte zu den anderen Anwesenden.
Asimov stand mittlerweile direkt vor Willof. „Xeni? Du bist wieder da.“
Der Neue Mensch musterte ihn ausführlich. Sein Gesicht, den Oberkörper, die Arme. Und die Pistole in der rechten Hand, was die Kreatur mit einem wütenden Knurren kommentierte.
„Xeni, bitte! Es ist Weihnachten. Du wolltest mir doch …!“ Asimovs restliche Worte verwandelten sich zu einem heiseren Keuchen. Denn sein Gegenüber packte ihn am Hals und drückte zu. Knackend zerbrach der Kehlkopf des Hauptmanns. Er ließ die Waffe fallen und starb.
Die Kreatur, die einmal ein harmloser Wasserstoff-Farmer gewesen war, trat mit ihrem linken Fuß auf die Pistole. Sie zerplatzte wie ein rohes Ei, kleine Trümmerteile breiteten sich auf dem Boden aus.
Der Neue Mensch entließ Asimovs Leichnam aus seinem Griff. Er öffnete den Mund, um einen Brülllaut von sich zu geben, durchsetzt mit Zorn, Schmerzen und einer Aggressivität, zu der kein normaler Mann fähig war.
Shiyan dachte an das, was Dr. Sanshus Hologramm über das Verhalten des Neuen Menschen erzählt hatte. Der Marsianer Xenius Willof existierte nicht mehr. Es gab nur noch ein gentechnisch erschaffenes Monster, das sie nicht aus diesem Labor entkommen lassen durfte.
Sofern es sie nicht vorher abschlachtete.
Kapitel 9
Die Kreatur stieg über Asimovs Leiche, streckte die Arme nach Chen aus und lief auf sie zu.
Sie wich zurück, entdeckte zu ihrer Linken Gor Kons Gewehr auf dem Boden, hob es auf und richtete den Lauf auf den Neuen Menschen.
Laut Dr. Sanshus Ausführungen war er schwerer zu verletzen als eine normale Person. Aber nicht unverwundbar. Shiyan brauchte nur noch den bogenförmigen Abzug zu betätigen.
Sie konnte nicht.
Ihre Hemmung, ein Leben zu nehmen, war größer, als die Gefahr, in der sie sich befand.
Ich werde hier unten sterben!, dachte sie verzweifelt, verdammte sich für die eigene Unfähigkeit. Sie ließ das Gewehr sinken.
Und die Kreatur blieb stehen. Die Aggressivität in ihrem Blick wurde weniger.
Shiyan brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann warf sie demonstrativ die Waffe weg.
Der Neue Mensch gab ein stöhnendes Geräusch von sich und nahm die ausgestreckten Arme herunter.
Pure Erleichterung durchflutete Chen. Sie war nicht mehr bewaffnet, stellte also für ihn keine akute Bedrohung dar. Solange sie sich friedlich verhielt.
„Ich will dir nichts tun“, sagte sie zur Sicherheit. Obwohl ihr bewusst war, dass sie gerade log. Die Kreatur durfte das Labor nicht verlassen. So ruhig wie möglich schaute sich Shiyan um. Der Lasergitterrahmen am Eingang – und damit das einzige Hindernis zwischen dem Neuen Menschen und dem Rest der Kolonie – war deaktiviert. Vermutlich durch Asimovs Sprengladungen. Was sollte ihn jetzt noch aufhalten?
„Verstehst du mich?“, fragte die Ärztin ratlos.
Ihr Gegenüber hielt irritiert den Kopf schief.
„Du bist Xenius Willof, erinnerst du dich?“ Shiyan schindete Zeit. Vielleicht kamen irgendwann ein paar Soldaten, um nach dem General zu sehen.
„Iiichhh“, quälte sich auf einmal ein Wort aus dem Mund des Wesens. „Iiich biiin …!“ Bebende Wut mischte sich in seine Stimme: „Ssssansssshuu ….!“
Es ballte die Fäuste.
Chen wich vor ihm zurück.
Aber nicht auf sie ging der Neue Mensch los. Sondern auf den Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Brüllend schlug er auf ihn ein, zertrümmerte die Tischplatte. Elektrische Funken sprühten. Als Nächstes wandte er sich dem Kühlschrank zu und wurde noch zorniger. Offensichtlich wusste er, was sich hinter der Schranktür befand: Die Seren, die ihn verändert hatten.
Es brauchte nur ein paar Faustschläge. Dann hatte der frühere Xenius Willof aus dem Gerät einen funktionslosen Haufen Schrott gemacht. Genauso zerstörte er den Gensplicer, das Spektrum-Mikroskop und die restliche Einrichtung.
Shiyan beachtete er überhaupt nicht mehr. Sie hätte weglaufen können.
Sie entschied sich dagegen. Die Kreatur lebte gerade ihren Hass auf das aus, was man ihr angetan hatte. Sie verhielt sich nachvollziehbar. Menschlich. Genauso wie die Soldaten der Kolonie, wenn sie aufeinander losgingen, weil all die Angst und Wut in ihnen übermächtig wurden.
Dr. Sanshu hatte keinen besseren Menschen erschaffen.
Bloß einen gefährlicheren.
Chen hob das Schallimpuls-Gewehr wieder auf. Dieses Mal würde sie schießen. Selbst wenn es sie nicht das Leben kostete, die Schuldgefühle, einen Unschuldigen wie Xenius Willof getötet zu haben, würden sie für immer quälen.
Sie zielte auf das Wesen und drückte ab. Die Impuls-Ladung traf es in den Rücken und ließ dort die Haut einreißen. Blut quoll daraus hervor.
Vor Wut bebend drehte sich der Neue Mensch zu Shiyan um. Sie schoss erneut, dieses Mal auf seine Brust. Eine weitere Wunde entstand.
„Es tut mir leid!“, hörte sich Chen wimmern und feuerte die dritte Ladung ab.
Die Kreatur wurde im Bauchraum getroffen, schwankte, blieb stehen.
Shiyan erkannte, dass sie nur noch einmal den Abzug betätigen musste, dann war die verabscheuungswürdige Aufgabe erledigt. Sie hob den Gewehrlauf, zielte auf den Kopf des Neuen Menschen. Er blickte sie direkt an.
In seinen Augen sah sie keine Wut mehr oder Angst. Nur grenzenlose Erschöpfung. Er öffnete langsam den Mund und sagte: „Iiich … will … naach … Hause!“
Die Worte trafen Chen direkt ins Herz. „Ich kann dich nicht gehen lassen.“
Die Kreatur erstarrte für einen Moment. Und nickte schließlich verstehend.
Shiyans Sicht verschlechterte sich. Weil Tränen ihr die Augen überfluteten. Etwas in ihrer Brust verkrampfte sich. Xenius Willof sprach zu ihr. Nicht das von Sanshu erschaffene Monster, das sie in ihm gesehen hatte. Der marsianische Wasserstoff-Farmer hatte ein letztes Mal die Herrschaft über seinen Körper zurückerhalten. Er breitete die Arme aus.
Chen schoss. Das Wesen starb.
Minutenlang betrachtete die Ärztin abwechselnd seinen Leichnam, den von Asimov und Gor Kon. Sie fühlte sich innerlich taub. Eingefroren in diesem Albtraum, der kein Ende nahm.
Sobald jemand hier herunterkam, würde sie festgenommen werden. Als dreifache Mörderin. Was wirklich geschehen war, wen interessierte es? Tatortermittler gab es in der Kolonie nicht, der ranghöchste General zählte zu den Opfern. Man würde Shiyan lynchen.
Dann ist das eben so!, dachte sie müde.
Ein Brummen erklang. Es waberte durch die Luft, wuchs zu einem Grollen heran. Es kam aus Richtung des zerstörten Brutbeschleunigers. Chen wollte sich umdrehen. Da explodierte das Gerät bereits, schickte eine Druckwelle durch das Labor, die die Ärztin erfasste und ihr das Bewusstsein raubte.
Kapitel 10
Shiyan Chen spürte die Matratze des vollautomatisierten Sani-Bettes unter sich, roch gefilterte, kühle Luft und wusste, dass sie nicht mehr in der Heping-Kolonie war. Dort gab es nach all den Monaten nur noch provisorische Krankenpritschen und Gestank.
Mühsam öffnete sie die Augen. Sie musterte die Zimmerdecke, eine Ansammlung von Rohren, Leuchtelementen und Optik-Sensoren. Die übrigen Wände bestanden aus Transparent-Metall. Chen begriff, dass sie an Bord eines Raumschiffes war. Vermutlich eines Krankentransports.
Am Fußende ihres Bettes erblickte sie eine asiatische Frau mit kurzgeschnittenen, schwarzen Haaren. Sie war mit der dunkelblauen Uniform der „Chernaya molniya“ bekleidet, der berüchtigten ZS-Geheimpolizei. Ihre Rangabzeichen wiesen sie als Leutnant aus. Sie musterte Shiyan mit nüchtern analytischem Blick und sagte: „Es freut mich, dass Sie endlich aufgewacht sind, Dr. Chen. Ich benötige ein paar Informationen.“
„Wie bin ich hierher gekommen?“, fragte die Ärztin mit rauer Stimme. Ihr Hals brannte wie Feuer.
„Man hat Sie vor sieben Standardtagen während einer sektorweiten Feuerpause aus der Heping-Kolonie evakuiert. Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung erlitten. Zudem wurde Ihr Atemapparat durch diverse giftige Gase in Mitleidenschaft gezogen. Ihr Zustand war zeitweise äußerst kritisch, weshalb man es vorzog, Sie in ein künstliches Koma zu versetzen, aus dem man Sie erst heute aufgeweckt hat.“ Die andere Frau machte eine leichte Verbeugung. „Ich bin Leutnant Hao Ban von der CH. Ich ermittle bezüglich der Ereignisse, die zu der Zerstörung von „Projekt Neuer Mensch“ geführt haben. Da wir Sie in dem dafür vorgesehenen Labor aufgefunden haben und Sie laut Datenbank gerade erst zur überwachenden Fachkraft befördert worden sind, hoffe ich, dass Sie mir weiterhelfen können.“
Chen konnte gar nicht krank genug sein, um zu vergessen, was geschehen war. Geschweige denn die eigenen Taten. Die jetzt dieser Frau preiszugeben, grenzte an Selbstmord. Nach der Tötung von Xenius Willof hatte sich Shiyan im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde gefühlt. Nun nicht mehr.
„Ich … weiß nicht genau …“, murmelte sie. „Da waren … Explosionen …“
„Ja. Soweit ich rekonstruieren konnte, wurden Sprengladungen gelegt. Von einem fachkundigen Soldaten. Sie vernichteten die Hauptenergieversorgung für das Labor und sorgten für einen kompletten Ausfall der Video-Überwachung.“ Leutnant Ban verschränkte die Arme vor der Brust. „Deshalb ist es entscheidend, dass Sie mir von den Geschehnissen berichten. Die Leichen von General Kon und Hauptmann Asimov wurden geborgen. Sie weisen leider zu viele Gewebeschäden auf, als dass ich ermitteln kann, was zum Tod dieser Soldaten geführt hat. Bitte erzählen Sie mir, was ist geschehen?“
Leutnant Ban bedachte Chen mit einem durchdringenden Blick.
Die fragte sich, ob die ZS-Geheimpolizistin wirklich nicht wusste, was vorgefallen war. Gut möglich, dass sie sich nur ahnungslos gab. Damit sie ihre Gesprächspartnerin ins offene Messer laufen lassen konnte.
„Es war Hauptmann Asimov“, begann Shiyan zu berichten und hangelte sich an den Fakten entlang, die sie nicht belasteten. „Er hat die Sprengladungen gelegt.“
„Woher wissen Sie das?“
„Er hat es mir gesagt, als er ins Labor kam. Kurz bevor die Energieversorgung ausfiel.“
„Und Sie haben ihm das geglaubt?“, bohrte Ban nach.
Chen schluckte laut. „Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln.“
Die ZS-Geheimpolizistin nickte leicht. „In der Tat besaß Hauptmann Asimov die Qualifikation, mit Sprengstoff zu hantieren. Nur warum hat er es getan?“
Auch da gefährdete die Wahrheit Shiyan nicht. „Er wollte die Testperson aus der Stasiskammer befreien. Er kannte sie aus einer Zeit, bevor Dr. Sanshu sie … behandelt hat. Er glaubte, dass man ihr Unrecht angetan hat.“
„Wie sehen Sie das, Dr. Chen?“
Das war eine verbale Galgenschlinge. Shiyan wusste, dass Geheimpolizisten im Deuten von Mikroexpressionen geschult wurden, flüchtigen Gesichtsausdrücken, die man nur schwerlich unterdrücken konnte. Eine Frage wie diese kam einem Test mit dem Lügendetektor gleich. Der Ärztin blieb nur die ehrliche Antwort übrig: „Ich denke, Dr. Sanshu hat einen Fehler gemacht und all das verraten, was ein Mediziner und Wissenschaftler in Ehren halten sollte!“
„Hat er dafür den Tod verdient?“, warf Ban die nächste Schlinge aus.
Shiyan wusste, worauf sie anspielte. „Ich bin kein Henker, Leutnant. Dr. Sanshu starb nicht, weil ich ihn behandelt habe, sondern trotzdem. Außerdem war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt, dass er mehr war als ein normaler Arzt.“
„Und wenn es Ihnen bekannt gewesen wäre? Hätten Sie sich bei seiner Behandlung weniger angestrengt?“
Purer Zorn stieg in Chen auf. „Ich bin Ärztin, Leutnant Ban. Ich rette Menschenleben. Ganz gleich, was ich von der Person halte, die ich behandele.“
Ban leistete sich einen Moment erdrückenden Schweigens. Dann erklärte sie: „Ihr Schilderungen decken sich mit den Eintragungen im Stationscomputer, die Gor Kon bezüglich Ihrer Beförderung zum Kommandeur gemacht hat. Was geschah im Labor? Wie sind der General und Hauptmann Asimov zu Tode gekommen?“
Ich bin es leid zu lügen!, dachte Shiyan bitter. „Kon wurde von Asimov erschossen.“
„Und der Hauptmann?“
„Wurde von der Testperson umgebracht.“
„Haben Sie etwas getan, um das zu verhindern?“
Chen schüttelte den Kopf. „Es ging zu schnell. Der Neue Mensch ist … war stärker als normale Personen.“
„Und was geschah mit ihm?“
Shiyans Mund weigerte sich, zu arbeiten.
„Wie ist mit der Testperson geschehen?“ Leutnant Ban stemmte die Hände in die Hüften.
„Ich habe sie mit der Waffe von General Kon erschossen!“, drängte sich der Satz zwischen Chens Lippen hindurch. „Sie ist tot!“
„Sind Sie sich da sicher?“
„Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.“
„Darauf, dass wir keinen Hinweis auf den Verbleib der Testperson gefunden haben.“
Kalter Schweiß floss Chens Rücken herunter. „Ich habe den Neuen Menschen erschossen, Leutnant Ban. Dessen bin ich mir absolut sicher. Die Verletzungen, die ich ihm beigebracht habe, konnte er nicht überleben.“
Sekunden voller Stille folgten.
„Sehr gut!“, antwortete die ZS-Geheimpolizistin schließlich überraschenderweise mit einem emotionslosen Lächeln. „Ich glaube Ihnen. Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit. Auch wenn es für Ihre Aussage keinerlei Beweise gibt. Aber ich nehme an, dass Dr. Sanshus Geschöpf ist widerstandsfähiger als gedacht. Die Kolonie versank im Chaos. Sicherheitsvorkehrungen sind ausgefallen. Da ist es gut möglich, dass der Neue Mensch fliehen konnte. Wohin, das werden wir wohl nie erfahren.“ Sie verschränkte die Arme wieder vor der Brust und ging ein paar Schritte durch das Krankenzimmer. „Ich habe nur Probleme damit, Ihre Tat mit der Aussage in Verbindung, Sie seien kein Henker. Wollen Sie mich aufklären?“
Shiyan spürte Würgereiz in der Kehle. „Wenn Sie mich wegen irgendetwas beschuldigen, sprechen Sie es aus. Was werfen Sie mir vor?“
Leutnant Ban blieb stehen. „Ich werfe Ihnen gar nichts vor, Doktor. Im Gegenteil. „Projekt Neuer Mensch“ war bei der ZS-Führung äußerst umstritten. Dr. Sanshu hat seine Vorgesetzten vor vollendete Tatsachen gestellt. Allein seine Forschungserfolge schützten ihn. Für gewisse Zeit. Bedauerlicherweise hat der Feind Kenntnis davon erhalten, dass die Heping-Kolonie mehr war als ein bloßer Truppenstützpunkt. Ein Angriff mit anschließender Gebietseroberung stand kurz bevor. Hätte man die Testperson da noch im Labor gefunden, wäre der Schaden enorm gewesen. Ich habe Ihre Akte gelesen, Dr. Chen. Sie besitzen einen starken Willen, Moral und Intelligenz. Deshalb erlaube ich mir, folgende Hypothese aufzustellen: Sie wollten den Neuen Menschen töten, um Ihre Soldatenkameraden zu beschützen. Weil in Ihrer Wahrnehmung das wohl Vieler mehr wiegt, als das Weniger. Oder eines Einzelnen.“
Die Ärztin brachte nur einen Gedanken zustande: Zu nah an der Wahrheit, um mich herauszuwinden!
Leutnant Ban redete weiter: „Eigentlich steht auf das, was Sie vermeintlich getan haben, nämlich die Zerstörung von Militäreigentum, eine mehrjährige Haftstrafe. Die aktuellen Umstände lassen Ihre Handlungen allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Zumal der abschließende Beweis, sprich: der Leichnam der Testperson, nicht vorliegt. Kurz nach Ihrer Evakuierung wurde die Heping-Kolonie vom Feind eingenommen. Wir konnten nur noch die Körper von General Kon und Hauptmann Asimov bergen. Das Projekt-Labor war stark zerstört. Daten mit Forschungsberichten blieben dennoch erhalten. Was der Gegner damit anfangen wird, bleibt abzuwarten. Die Tötung der Testperson aus Sicherheitsgründen wäre definitiv angemessen gewesen. Insofern haben Sie in unserem Sinne gehandelt. Deshalb unterbreite ich Ihnen ein Angebot, Dr. Chen. Es ist nicht das angenehmste. Aber ich denke, ein besseres werden Sie nicht bekommen.“
„Ich höre“, meinte Shiyan heiser.
„Sagt Ihnen das Multiplex-Serum etwas?“
Chen brauchte einen Moment, um in ihrem langsamen Geist die gewünschten Informationen zu finden. „Ja. Es ist ein Mittel bei der Behandlung von Gehirnverletzungen. Man vermutet, dass es bestimmte Neuronenverknüpfungen wiederherstellen kann. Soweit ich weiß, ist es aber noch in der Erprobungsphase. Was hat das mit mir zu tun?“
„Wir von der „Chernaya molniya“ haben es bereits öfters eingesetzt.“ Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Bans Lippen. „Insbesondere bei Personen, deren Fähigkeiten zu kostbar sind, als dass wir darauf verzichten wollen. Sie, Dr. Chen, gehören zu diesem erlesenen Kreis.“
„Ich bin eine einfache Ärztin.“
„Dr. Sanshu sah mehr in Ihnen. Und wir tun das auch. Vorläufig haben wir keine Verwendung für Sie. Die Zukunft jedoch ist unbeständig. Was wir heute ablehnen, umarmen wir vielleicht schon morgen. Wir sind in der Lage, mit dem Multiplex-Serum Ihr Erinnerungsvermögen zu beeinflussen. Da Sie nur einen halben Standardtag Wissen über „Projekt Neuer Mensch“ sammeln konnten, dürfte die Prozedur nicht allzu aufwendig und risikoreich sein.“
„Sie … wollen mein Gedächtnis löschen?“
Die Geheimpolizistin nickte. „Nur, was die fragliche Zeit betrifft. An alles andere werden Sie sich erinnern können.“
Chen bekam eine Gänsehaut. Und das nicht, weil die Raumtemperatur gesunken war. „Sie manipulieren mein Gehirn. Das ist …!“
„Die einzige Möglichkeit, um lebend aus dieser Situation herauszukommen“, unterbrach Ban sie. „Sehen Sie es als verspätetes Weihnachtsgeschenk an. „Projekt Neuer Mensch“ muss begraben werden. Genauso wie die Personen, die damit zu tun hatten. Dr. Sanshu, General Kon und Hauptmann Asimov stellen keine Sicherheitsrisiken mehr dar. Sie dagegen schon.“
Shiyan stand sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand. Sie ging den einzig möglichen Weg. „Tun Sie, was nötig ist.“ Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus.
„Man wird noch heute mit der Prozedur beginnen. Wir werden uns nie wiedersehen. Insofern vielen Dank für Ihren Dienst, Dr. Chen.“
Leutnant Ban verließ das Zimmer.
Shiyan blieb mit ihren Gedanken allein zurück. Den erdrückenden Fragen, auf die ihr niemand eine Antwort geben würde. Falls Xenius Willof tatsächlich noch lebte, was tat er nun? Lief er orientierungslos durch das marsianische Ödland? Gelangte er zu einer anderen Kolonie und richtete als das Monster, zu dem man ihn gemacht hatte, ein Massaker an?
Oder gelang es der Seele des früheren Wasserstoff-Farmers, sich durchzusetzen? Wieder der Mann zu sein, der Hauptmann Asimov versprochen hatte, miteinander Weihnachten zu feiern? Chen gefiel dieser Gedanke. Sie beschloss, sich so lange wie möglich an ihn zu klammern.
Kurz darauf erschien ein namenloser Arzt und verabreichte ihr mit einer Luftdruckspritze das Multiplex-Serum. Ein undurchdringlicher Nebel breitete sich in ihrem Geist aus. Er umhüllte Erinnerungsbilder, ließ sie verblassen, bis nur noch Leere an ihrer Stelle existierte.
Dr. Shiyan Chen versank in tiefer Bewusstlosigkeit.
Zehn Tage nach der Evakuierung der Heping-Marskolonie erwachte sie auf der Gargarin-Raumstation, im geostationären Orbit um die Erde. Sie lag in einem komfortablen Sani-Bett. Man berichtete ihr, wie glücklich sie sein konnte, noch am Leben zu sein. Ihre Wunden verheilten gut. Nur an Schlafstörungen litt sie. Und Gedächtnislücken. So sehr sich Shiyan bemühte, sich konnte sich nicht daran erinnern, was sie an ihrem letzten Tag getan hatte. Nachdem ihr der geschätzte Kollege Dr. Sanshu auf dem Operationstisch unter den Fingern weggestorben war. Bevor sie das Opfer einer Explosion in der Verwaltungskuppel wurde.
„Kein Wunder“, meinte ein Pfleger. „Sie haben mehrere Monate Hölle erlebt! All die Toten. Da legt das Hirn mal ne Auszeit ein.“
Chen stimmte ihm zu, akzeptierte, dass sie auf bestimmte Fragen wohl nie eine Antwort erhalten würde. Ein paar Mal jedoch kam ihr ganz kurz ein seltsamer Begriff in den Sinn: Xenius.
War es ein Name? Eine Bezeichnung?
Trauer schwang mit, sobald er in ihrem Geist auftauchte. Dann verschwand er wieder.
Shiyan zwang sich, nach vorne zu blicken.
Trotzdem beschlich sie das Gefühl, dass irgendetwas in ihr fehlte. Ein Puzzleteil ihres Lebens. Vielleicht fand sie es eines Tages.
Ende
Notiz des Autors: Wenn Sie Dr. Shiyan Chen wiedertreffen möchten, in meinem Science-Fiction-Roman „Kar-Es: 701 Down!“ bekommen Sie die Gelegenheit.